BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
dieser Nacht verschwendete Dakaris aber kaum einen Gedanken. Er konzentrierte sich völlig auf das Unbegreifliche, mit dem er sich auseinanderzusetzen hatte.
»Ach, wenn du noch erzählen könntest«, murmelte er. »Deine Geschichte muss atemberaubend sein! Gebar Pasiphae am Ende
zwei
Stierkinder, die ihr Gemahl vom Antlitz der Welt bannen ließ? Aber warum tat er dann so verblüfft? Nein, das war nicht gespielt, der Schock kam aus dem Innersten. Er sah dich nie zuvor...«
Fasziniert strich seine Hand über die Haut des Kadavers. Nur Kopf und Hals waren von Fell überzogen. Der Rest war glatte, alabasterbleiche Haut, das Fleisch so warm wie Dakaris' Haut, nicht kalt wie sonst bei Toten üblich.
Den kurz aufflackernden, wirren Verdacht, gar nichts Totes, sondern lediglich etwas auf geheime Weise
Schlafendes
vor sich zu haben, hatte der Augure rasch widerlegt. Er besaß ein Hörrohr, wie es Ärzte zum Abhören von Herz, Lunge und Gedärmen benutzten. Damit und mit einem Spiegel, den er vor die Nüstern der Stierfratze gehalten hatte, hatte er jeden Zweifel am Tod des Monstrums ausgeschlossen.
Aber warum traten dann keine Totenstarre und kein Zerfall ein?
Das wollen sie von dir erfahren, du Narr, also fang endlich an! Rück ihm zu Leibe!
Das hatte er fest vor, und zwar mit einem ganzen Arsenal von Werkzeugen und Waffen, die er neben dem Untersuchungstisch auf einem zweiten, etwas kleineren aufgereiht hatte.
Als erstes untersuchte er die Halspartie genauer, als es draußen in der Nacht möglich gewesen war. Doch auch hier, unter besten Bedingungen, fand er keinerlei Hinweis, dass irgendjemand das Haupt entfernt und später wieder kunstvoll angenäht hatte – aus welchen Gründen auch immer. Beide, Kopf und Rumpf, waren nie voneinander getrennt gewesen!
Dakaris arbeitete die ganze Nacht hindurch, wobei er völlig ungestört blieb.
Aber auch vollkommen erfolglos.
Was auch immer er versuchte, um die Kadaverhülle zu öffnen, es scheiterte. Der Körper war unzerstörbar.
Ein Mysterium.
Mehr aus Frustration als aus Erschöpfung fiel der Augure gegen Ende der Nacht in einen kurzen, nervösen Schlaf.
Als er daraus wieder aufschreckte, graute gerade der Morgen, und die meisten Öllichter waren herab gebrannt.
Unter stechenden Kopfschmerzen richtete er sich neben dem Tisch auf, wo er sich hatte hinsinken lassen. Erst als er wieder aufrecht stand, bemerkte er, dass sich während des Schlafs etwas Phantastisches verändert hatte. Nicht im eigentlichen Sinn an dem Kadaver selbst, sondern... zwischen dessen leicht gespreizten Schenkeln.
Dort lag etwas, was vorher nicht dagewesen war.
Ohne einen Fuß von der Stelle zu bewegen, schrie der Augure so schrill und so lange, bis König Minos' Leibwächter und schließlich der König selbst, die nebenan übernachtet hatten, hereinstürmten.
Und die Bescherung ebenfalls sahen.
Der Hautsack barst unter dem ersten, routiniert geführten Schnitt eines Soldaten.
Darunter kam ein Wesen zum Vorschein, mindestens ebenso entsetzlich anzuschauen, aber völlig anders als der Kadaver, der aus dem Labyrinth geholt worden war.
»Welch grausige Missgeburt!«, rief Minos, als die Hülle an dem Geschöpf herabsank.
Es hatte kindliche Größe und entsprach dabei ganz dem Bild, das man sich von einem Kentauren, halb Mensch, halb Pferd, machte.
Und es war tot.
Genauso tot wie das Stiermonstrum.
»Ich wollte, dass es aufhört«, seufzte Minos, als niemand sonst das Wort ergriff. Sprachlos entsetzt standen alle da, auch Dakaris. »Ich habe keine Schuld auf mich geladen, die solche Heimsuchungen rechtfertigen würde! Augure – hilf mir! Ich werde dich mit Reichtümern überschütten, wenn es dir gelingt, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten! Totes, das Totes gebiert... Was muss noch alles geschehen, bis die unter- und die überirdischen Mächte den Fluch wieder von mir und meinem Geschlecht nehmen? Habe ich nicht schon all meine Kinder verloren? Meine Söhne sind tot, und auch wenn meine Töchter noch leben, so doch so fern in der Fremde, dass ich sie vielleicht nie mehr in meinem Leben wiedersehen werde...! Ich bin ein gebrochener Mann. Das Unglück klebt mir an den Händen. Dabei wollte ich meinem Volk stets ein guter und gerechter König sein. Ich wollte...«
Er brach mitten in der Rede ab.
Die Blicke seiner Krieger erfüllten ihn mit Scham.
»Was ist?«, herrschte er Dakaris an. »Kannst du mir helfen? Kannst du machen, dass es
aufhört
?«
Dem Auguren zerriss es fast das
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