BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
Federico noch die Kraft nahm, in dieser Lautstärke zu schreien.
Er wollte es nicht, und doch gab es nichts, was er dagegen hätte tun können: Schritt um Schritt trat Baldacci näher an den altarähnlichen Block heran, und es hätte nicht einmal Salvats Hand bedurft, die er im Rücken spürte und die ihn mit sanftem Druck vorschob.
Wie von selbst bewegten sich seine Beine, bis er neben der Liegestatt des Träumers stand und auf ihn hinabsehen konnte.
Federicos Haut war weiß; nicht nur bleich, sondern
weiß
wie frisch gefallener Schnee. Und als Raphael sie ohne sein bewusstes Zutun vorsichtig berührte, spürte er, dass sie rau und spröde und hart wie Ton war. Die Augen des Träumers lagen so tief in den Höhlen, dass nur Schwärze sie zu füllen schien. Und doch, obwohl dieser Mann einem Toten ähnelte, ging eine geradezu elektrisierende Vitalität von ihm aus, von der Baldacci fast glaubte, sie würde die Luft im Raum knistern lassen.
»Warum lebt er noch?«, fragte Raphael mit belegter Stimme. »Wie ist es möglich...«
»Er lebt, solange er träumt. Und er träumt, solange er lebt«, erwiderte Salvat.
Die dunklen, scheinbar leeren Augenhöhlen richteten sich auf Baldacci, und obwohl er meinte, dass sie blind sein müssten, spürte er sich von Blicken regelrecht berührt und abgetastet.
»Was soll nun geschehen?«, wollte er wissen. Selbst seine Stimme schien zu frösteln.
»Du bist der letzte Gesandte, den wir ausschicken, um die letzte der Fährten aufzunehmen.«
»Warum ich?«, wandte Raphael von neuem ein. »Adrien sagte, ich wäre noch nicht soweit, und ich...«
»Es gab so viele Hinweise und Spuren, denen wir nachgehen mussten, dass alle Gesandten schon auf dem Weg sind. Du bist der einzige, der weit genug fortgeschritten ist, dass ich es zu wagen bereit bin, dich auszusenden«, erklärte Salvat, und ein Funke der Zuversicht in seinen Worten sprang auf Baldacci über.
Er fühlte mit einem mal
etwas
in sich; etwas, das Kräfte weckte, die seit jeher in ihm gewesen waren, doch bislang brachgelegen hatten. Er hatte sie eigentlich langsam und Stück für Stück mobilisieren sollen, um nach und nach zu lernen, sie zu beherrschen. Doch jetzt standen sie unmittelbar davor, vollends und auf einmal zu erwachen.
»Wie erfahre ich, was zu tun ist? Wie finde ich meinen Weg?«, fragte er, nicht länger zaudernd, sondern entschlossen.
»Lies in ihm.«
Salvat wies mit einer fast beiläufigen Geste auf den Träumer, und Raphael Baldacci schauderte, als er begriff, was der andere ihm hieß.
Er sollte eintauchen, eins werden mit dem Geist dieses menschlichen Wracks, in dem doch nichts anderes sein konnte als – Wahnsinn... Ein im Irrsinn tobender Dämon, der jeden angreifen würde wie ein tollwütiger Hund, wenn er sich ihm näherte.
Und er, Raphael Baldacci, sollte sich ihm stellen, ohne dass er auch nur annähernd Vergleichbares je zuvor versucht hätte...
Salvat entging sein Zögern nicht.
»Tu es«, forderte er ihn auf. »Dies ist der Moment, da sich weisen wird, ob meine Hoffnung in dich berechtigt ist.«
Und wenn nicht?
Raphael stellte die Frage nicht laut. Weil er die Antwort fürchtete. Die Antwort, die ihm nur seine Vermutung bestätigen würde, dass Salvat ein Menschenleben wenig galt, wenn es nur der Sache diente.
Er streckte die Hände vor, verharrte noch eine Sekunde dicht über dem Gesicht des Träumers – und dann setzte er seine Finger in jenem Griff an, den Adrien ihn gelehrt hatte.
Eigentlich war dabei vorgesehen, dass die Mittelfinger die geschlossenen Lider des anderen berührten. Doch hier – versanken sie ein kleines Stück in der Schwärze der Augenhöhlen und stießen selbst dann noch nicht auf Widerstand! Nur auf Kälte...
Raphael gebot dem neuerlichen Schauer, der ihm über den Rücken kriechen wollte, mit eisernem Willen Einhalt.
Er spürte, dass seine Adern nicht länger nur Blut transportierten, dass etwas unglaublich Mächtiges diese Bahnen nutzte. Und dann galt all seine Konzentration nur noch dem Fluss der Kraft, dem Bewegen von unsichtbaren Dingen, die in und aus ihm wuchsen, die zunächst ungezielt um sich tasteten und die er kraft seiner Gedanken schließlich auf einen Punkt zu zwang.
Auf einen Punkt im Geist des Träumers – der den Wahnsinn schärfer bewachte, als Raphael es für möglich gehalten hätte. Die 'Gliedmaßen' seines eigenen Geistes fochten Kämpfe mit dem Fremden, die jede Beschreibung verharmlosen musste, weil es die wahren Worte dafür nicht
Weitere Kostenlose Bücher