BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
dieser Hinsicht war Benji entscheidend benachteiligt, denn wahre Gefahr hatte er in seinem jungen Leben nicht kennengelernt.
Noch
nicht...
Wieder und wieder verhielt der kleine Inuit, sah sich nach allen Seiten um, griff mit Blicken in die Schatten zwischen den Bäumen und dem Gesträuch.
Bis er auf einen stieß, den er nicht zu durchdringen vermochte!
Einen Moment lang fürchtete Benji, tatsächlich auf einen Bären gestoßen zu sein, der sich auf die Hinterbeine erhoben hatte, um gleich zum Angriff überzugehen.
Groß und mächtig war dieser Schatten, der im entfernten Dunkel stand. Doch er rührte sich nicht, und er gab auch keinen Laut von sich.
Dass Benji trotzdem mit der Axt ausholte und sie warf, entsprang eher einem Reflex als seinem eigenen Willen.
Ein dumpfer, unangenehm
feuchter
Laut bewies ihm, dass er getroffen hatte, was immer auch dort stand.
Doch der Schatten schien Schmerzen nicht zu kennen, denn er ließ mit keiner Regung erkennen, dass er verletzt worden war.
Benji biss die Zähne zusammen. Rasch nahm er den Bogen von der Schulter, zog fast in der gleichen Bewegung einen Pfeil aus dem ledernen Köcher und legte ihn auf die Sehne. Die Spitze des Pfeils wies auf den Schatten, als der Junge, noch immer vorsichtig und leise, weiterging.
Das Gefühl des Fremdartigen wuchs in Benji zu etwas Frostigem, das jedes Organ wie mit Raureif umhüllte. Dennoch schaffte er es nicht, einfach stehenzubleiben. Fast war es, als zöge ihn das an, was dort im wattigen Dämmerlicht stand – und das sich nun doch endlich bewegte.
Wenn es auch nur einen einzigen Schritt tat.
Doch dieser Schritt brachte es heraus aus dem undurchschaubaren Schattengespinst.
Benji sah es jetzt – und schrie auf!
Es war kein Bär, auch sonst kein Tier. Obwohl es im allerersten Augenblick auch nicht wie ein Mensch aussah.
Dann, als müsste sein Blick sich erst eine halbe Sekunde lang klären, erkannte der Junge, was ihm da entgegengetreten war.
Ein Mann.
Oder etwa nicht?
Die Gestalt war nackt, und doch konnte Benji kein Geschlecht ausmachen.
Doch im Moment war diese Feststellung allenfalls am Rande irritierend für den Jungen – denn das Gesicht des anderen schlug ihn förmlich in seinen Bann. Mehr noch – es entsetzte ihn!
Es war kein Gesicht, sondern eine Fratze mit wulstiger Stirn und einem wie eine Wunde klaffenden Mund, in dem spitze Zähne blitzten. Strähniges Haar umgab das Gesicht wie schwarzes Gewürm. Und die Augen glühten wie im Widerschein eines niederbrennenden Feuers.
In der Brust des Unheimlichen steckte die Steinaxt, doch es trat kaum Blut aus der Wunde. Und während Benji noch entsetzt starrte, packte das Wesen den Stiel der Axt, zog sie mit einem Ruck aus seinem Fleisch und ließ sie in den Schnee fallen.
Die Wunde schloss sich, so schnell, dass Benji dabei zuschauen konnte. Nicht einmal eine schorfige Narbe blieb zurück.
Eine ganze Weile standen Kind und Monstrum einander gegenüber, maßen sich mit Blicken; angsterfüllt die des einen, bannend die des anderen.
Doch mit jeder Sekunde verlor sich die Furcht aus Benjis Blick, als würde sie durch ein Ventil abfließen – oder verdrängt von einer fremden Kraft. Und schließlich ließ der Junge Pfeil und Bogen achtlos fallen und trat auf den anderen zu,. Es gab keinen Grund, dieses Wesen zu fürchten. Im Gegenteil...
Auf einer tieferen Ebene seines Denkens, über die er noch verfügen durfte, wunderte der Junge sich, weshalb er nicht gleich darauf gekommen war, dass ihm mit dieser Begegnung etwas ganz Großes widerfuhr.
Denn er kannte diese Gestalt aus den Geschichten der Alten.
Dieses Wesen war ohne jeden Zweifel – Tattu.
Der zweigeschlechtliche Weltenschöpfer vom Anfang der Zeit.
Sie würden Augen machen im Dorf, wenn er Tattu mitbrachte!
Benji sah ehrfürchtig auf zu der großen Gestalt. Dann nahm er die totenkalte Hand des anderen und führte ihn nach Nuiqtak.
Die Tür schwang auf, kaum dass Sardon sie berührt hatte. Es kam ihm vor wie eine Einladung. Doch er trat nicht sofort ein. Auf der Schwelle blieb er stehen und sah den Flur entlang, der sich dahinter anschloss. Kahl und dunkel erstreckte er sich tief ins Innere des Hauptgebäudes. Türen unterschiedlicher Größe zweigten zu beiden Seiten ab, und am jenseitigen Ende des Baus gabelte sich der Korridor, um in die Nebengebäude weiterzuführen.
Nichts rührte sich. Wahrhaftige Totenstille herrschte.
Eine Stille, deren Wirkung sich selbst Sardon nicht entziehen
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