Bad Moon Rising
Er wollte nicht gebeten werden, sich wieder dafür zu interessieren, ob er lebte oder starb. Wenn man sich darüber Gedanken macht, dann zählte das, was sie dir antun – was sie dir angetan haben –, doppelt. Ich sah Murdoch vor mir, ein wütender Blick, so resigniert und extrem, dass er wie milde Langeweile wirkte. Eine Person zu vernichten war nämlich nicht genug. Es war nie genug, ganz gleich, was man tat. Man war ja noch immer da, auch wenn das letzte bisschen an menschlicher Würde vergangen war. Man war noch immer da, unbefriedigt, wie Gott.
Caleb würgte, schauderte, biss die Zähne zusammen, beruhigte sich wieder. »Töte mich auch gleich … wenn du schon dabei bist«, erklärte er. »Ich halt … das … nicht mehr aus.«
»Ich werde keinen von euch töten.«
»Ach ja«, schnappte Caleb nach Luft, »hab ich vergessen. Du bringst uns hier raus.«
Walker schlug die Augen auf, sah aber zu Boden.
»Kann sie uns nicht sagen«, meinte Caleb. »Die hören mit …«
Ich musste davon ausgehen, dass sie es taten. Deshalb hatte ich nicht riskiert, Caleb einzuweihen, bevor mich die Wissenschaftler wegschafften. Und jetzt hatte es sowieso keinen Zweck mehr. Wenn mein Plan funktionierte, würden sie es früh genug herausfinden. Wenn nicht, dann ersparte ich ihnen zerstörte Hoffnungen.
»Mike ist geflohen«, sagte Walker und starrte weiter den Boden an.
»Wirklich? Woher weißt du das?«
»Hab sie reden hören …« Er hielt inne, schien abzuschweifen. Das Wort ›sie‹. Gewisse Pronomina waren neu erfunden worden. ›Sie‹, ›ihnen‹, ›er‹, ›ihm‹. Diese Wörter bremsten ihn, erinnerten ihn daran, dass er nicht mehr er selbst war. »Hab gehört«, wiederholte er, »›der Russe ist raus.‹«
Ich stellte mir vor, wie Konstantinov wie ein Tier aus einem Waldbach trank, seine Haut weiß im grünen Dämmer.
»Wann?«, fragte ich.
Walker schloss wieder die Augen. Dieses Reden, als sei nichts gewesen, war für ihn ungeheuer schwer.
»Walker?«
»Eine Woche, vielleicht mehr.«
»Was ist mit den anderen?«
»Tot.«
Die Tresortür öffnete sich. Murdoch und Tunner kamen herein, der krummbeinige Tunner mit seinem Markenzeichen, dem Affengrinsen, ließ erfreut seine Muskeln spielen. Murdoch zog langsam einen altmodischen Wecker mit großen, schulmeisterlichen Zeigern und zwei Halbkugeln auf. Einen solchen Wecker hatte ich früher in meinem Schlafzimmer gehabt, als ich noch klein war. Walker, der Adrenalin regelrecht blutete, rollte sich in seinen Fesseln noch enger zusammen, verschloss sein Gesicht, suchte ein Versteck tief in sich selbst. Ich stellte ihn mir vor, wie er nackt und mit an die Füße gefesselten Händen von zwei Jägern in Schwarz festgehalten wird, während Tunner ihm immer wieder einen blutigen Knüppel in den Hintern schiebt und Murdoch mit dem Handy telefoniert und zuschaut.
»Es ist neun Minuten nach drei Uhr früh«, sagte Murdoch leise. »Der Vollmond geht in vierzehn Stunden und zwei Minuten auf.« Er stellte den Wecker auf den Boden, mit dem Zifferblatt zu uns, dann baute er sich darüber auf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Zu dem Zeitpunkt wird sich Ms Demetriou in ein Monstrum verwandeln.«
»Ein ausgehungertes Monstrum, Onkelchen«, ergänzte Tunner.
»Ausgehungert, ganz richtig, Mr Tunner.«
»Jeglicher Moral beraubt.«
»Beraubt, ja –«
»Ich hab da eine Idee«, unterbrach ich die beiden. »Warum lasst ihr nicht die Albernheiten und verpisst euch?«
Caleb lachte keuchend. Das war das erste Mal, dass ich ihn lachen hörte. Das bereitete mir eine kleine Explosion Freude, ebenso die Auswirkung, die meine Unterbrechung auf Murdoch hatte, der ein, zwei Sekunden lang verstummte. Dann sagte er: »Sehr gut gemacht. Wie eine Ohrfeige. Ich bin peinlich berührt.«
Ein paar nicht ganz so süße Augenblicke lang sagte keiner ein Wort. Murdoch hatte Macht über die Stille wie ich über die Wölfe. Er konnte sie herbeirufen und zu einer Erweiterung seiner selbst machen. In dieser Stille erkannten wir, wie klein der Punkt, den ich gemacht hatte, gegen die schiere Größe dessen war, was auf uns zukam.
»Na, jedenfalls«, fuhr er fort, als er wusste, dass Zeit genug vergangen war, »werde ich rechtzeitig wieder hier sein und mir alles anschauen. Bis dahin verabschiede ich mich. Mr Tunner?«
Als sie gegangen waren, fragte Caleb: »Kommst du an den Wecker?«
»Nein«, antwortete ich. »Warum?«
Er schluckte. Wieder ein Hals voller Glassplitter.
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