Bad Moon Rising
»Das Ticken …«, sagte er. »Das macht mich wahnsinnig.«
44
Walker schlief. Um Viertel nach sieben (wahrscheinlich Sonnenaufgang in der Welt draußen) schlief auch Caleb endlich ein. Dann war ich allein mit dem Wecker und dem Hunger – und mit zwei neuen Fragen.
Erstens: Was würde Konstantinov tun, wenn er wirklich geflohen war? Eine aufregende Vorstellung, dass er vielleicht ein Team aufstellte, um uns rauszuholen – aufregend und unrealistisch. Er schuldete Walker nichts. Walker schuldete ihm was. Konstantinov interessierte sich nur dafür, seine Frau zurückzubekommen. Außerdem gab es kein Team, das er hätte zusammenstellen können. Das hatte Walker bereits für den Ausflug nach Italien versucht: Drei Mann hatte er aufgetrieben – und die waren alle tot. Wie ich es auch betrachtete: Konstantinov war uns in Freiheit auch nicht von größerem Nutzen als eingesperrt. Was mich nicht daran hinderte, es wiederholt von allen Seiten zu betrachten.
Zweitens: Was würde mit Walker geschehen, wenn mein Plan nicht funktionierte, wenn die Theorie, auf der er basierte, falsch war, wenn ich die große Wette verlor?
Antwort: Dann würde ich ihn töten und fressen. Wenn nicht diesen Monat, dann nächsten. Wenn Murdoch darauf bestand, dass Walker durch einen Werwolf ums Leben kam, dann würde der Hunger früher oder später einwilligen.
Es gab natürlich einen drastischen Ausweg für Walker, wenn meine Theorie stimmte. Aber wenn sie stimmte, dann würde der Plan funktionieren. Und wenn der Plan funktionierte, würde er diesen drastischen Ausweg nicht brauchen. Wenn ich ihm diesen drastischen Ausweg anbot und er ging darauf ein (was er in seinem jetzigen Zustand wohl tun würde) und der Plan funktionierte, dann würde der drastische Ausweg überhaupt nicht mehr wie ein Ausweg erscheinen …
In der Zwischenzeit machte sich der Hunger umfassend ans Werk. Wolf lief in seinem menschlichen Käfig auf und ab und warf sich ab und zu gegen die Gitterstäbe. Die Stäbe taten sich dabei weh. Mein Blut wurde immer dichter. Wie immer gab es nichts, was ich hätte erbrechen können. Und wie immer versuchte es mein Magen stets aufs Neue. Wie schon bei den Wehen war jede Körperhaltung falsch. Kaum bemerkte irgendein Körperteil, dass ich auf ihm lag, begann es zu protestieren. Ich wollte ein Bad, Schmerzmittel, Alkohol. Cloquet würde mit Zoë mehr als genug zu tun haben. Wenn er sie nicht irgendwo ausgesetzt hatte. Ich sah einen Müllhaufen vor mir, ihre nackten Beine lugten hervor, Fliegen schwirrten um ihren Fuß.
HÖR MIR ZU. KANNST DU MICH HÖREN?
Ich ergab mich dem Gedanken, dass meine Kinder tot sein könnten. Wolf gefiel das nicht und riss von innen an mir. Das Ungeheuer war noch nicht bereit, die Niederlage als Mutter einzugestehen, auch wenn die Frau das schon getan hatte.
WEHR DICH NICHT.
Ich sah mich schon, wie ich meine Zähne in Walkers Schulter versenkte und meine Finger handtief in seinen Oberschenkel bohrte. Wolf wies auf das Offenkundige hin: ›Du tust ihm einen Gefallen. Wie spät ist es?‹
Zehn vor drei, nachmittags. Je hungriger ich wurde, desto langsamer bewegten sich die Zeiger des Weckers, desto schneller tigerte das Ungeheuer im Käfig umher. Bald wäre die Übelkeit vorbei, und ich würde völlig aufgekratzt sein. Dann würde ich auf die Beine kommen und mit dem Ungeheuer hin und her tigern. Ein Käfig mit einem Tier darin, das selbst ein Käfig mit einem Tier darin war. Eine widerwärtige Variante der Matrjoschka-Puppen.
DU SPÜRST MICH. ICH WEISS ES.
Walker wachte kurz auf und rührte sich nicht, nur die Augenlider flatterten. Er blieb zusammengerollt auf der Seite liegen und beobachtete mich.
»Sind deine Rippen gebrochen?«, fragte ich ihn.
Er blinzelte langsam. Er wollte raus. Raus aus dem Leben. Jedes Aufwachen war eine Enttäuschung, dass der Traum, den er gehabt hatte, nur ein Traum gewesen war.
»Hör mir zu«, erklärte ich. »Wenn es so weit ist, werde ich nicht sprechen können. Das weißt du doch, richtig? Du wirst nicht glauben, dass ich da wirklich drin bin. Du wirst denken, ich kenne dich nicht. Aber das tue ich. Wenn ich mich verwandle, musst du daran denken, dass ich dich kenne und dir nicht weh tue.«
Als er sprach, war seine Kehle so trocken, dass kein Ton herauskam. Ich stand auf und gab ihm Wasser. Freundlichkeit war grausam für jemanden, der so sehr aus dem Leben wollte wie er. Er wollte wirklich raus, raus, raus, ohne jeden Zweifel.
»Tu, was du tun musst«,
Weitere Kostenlose Bücher