Bad Moon Rising
Tausend Meilen Wald. Feuerschein im Schlund einer Höhle. Überall Eis. ›Nicht viele schaffen tausend Jahre.‹ Dieser schon. Remshi.
In einem Halbkreis umstanden weitere Vampire das königliche Paar, hielten Kerzen oder Weihrauchgefäße. Neben dem Altar stand eine Kanzel, darin ein untersetzter, kleiner Flattermann mit dichten weißen Haaren in einem Topfschnitt und einem weißen Bart wie ein steifer Malerpinsel. Er trug einen weißen Arbeitsoverall, wie es schien. Auf dem Pult vor ihm lag ein großes Buch. Zwei weitere … Priester, nahm ich an, da sie die Einzigen waren, die einheitlich in diese absurden Overalls gekleidet waren, standen zu beiden Seiten des Altars. Ich musste an Clockwork Orange denken. Sechs nackte Stahlsäulen trugen das Dach. Konstantinov, blutbedeckt, saß bewusstlos (nicht tot, wie meine Nase verriet) und in Handschellen am Fuß des Priesters zur Linken das Altars. Cloquet, der nach erstem Augenschein unverletzt wirkte, stand an den Priester rechts davon gefesselt.
Ich suchte die Reihen nach Mia ab. Ich hatte sie noch nie gesehen, aber ich sagte mir, ich würde sie schon erkennen. Die Logik musste klar sein: Soweit sie wusste, würde sie ihren Sohn niemals finden, wenn ich nicht lebend wieder hier herauskam. Also musste sie ganz genau dafür sorgen.
»Alle tot«, sagte Cloquet.
»Ich fürchte, das stimmt«, bestätigte Jaqueline. »Aber das wussten Sie ja schon. Sonst wären Sie ja nicht hier.«
›Alle tot‹, hatte sie bestätigt. Sie wusste also nichts von den anderen.
»C’est vrais, n’est pas ?« , fragte Jacqueline Cloquet. »Sie will verhandeln?«
NOCH NICHT.
Cloquet sah mich an. Ich konnte ihm kein Zeichen geben, dass ich nicht allein war. Er fragte sich wohl, ob er jemals wieder einen Sonnenaufgang sehen würde.
»Sie wollen sich für Ihren Sohn austauschen lassen«, stellte Jacqueline mir gegenüber fest.
Lorcan kämpfte gegen die Fesseln an. Ich spürte es in meinen eigenen Hand- und Fußgelenken. Die Anstrengung, stillzuhalten, machte mich schwindeln. All mein Scheitern bildete eine eng anliegende Hitze um mich herum. Atme. Atme. Atme.
»Ich habe selbst keine Kinder«, fuhr Jacqueline fort. »Und nehmen Sie es mir nicht persönlich, aber ich muss sagen, ich verabscheue die Idiotie, die Erwachsene überfällt, kaum dass sie Kinder haben. Aber ich verstehe. Das ist der Instinkt.«
»Wir sind keine Sadisten, Miss Demetriou«, erklärte Remshi lächelnd. Seine Stimme war warm, voluminös, sanft, mit einem mir völlig unbekannten Akzent. Nachdem der erste Blick dich durchbohrt hatte, war es schwer, ihm in die silbernen Augen zu schauen. Ich sah ein Bild vor mir, wie er Nachts allein in der Wüste steht. Eisiger Sand. Sterne, die bis zum Boden reichen. Die Vorvergangenheit war hier in diesem Raum, Jahrhunderte schmolzen dahin, ein Effekt erschreckender Komprimierung. Es war erschreckend, damit in Verbindung zu stehen, wie damals als Kind, mein Dad gab mir eine Drachenschnur, die ich festhalten sollte, und ich sah den Drachen da oben am Himmel, ganz weit weg, aber mit mir verbunden, und ich bekam einen solchen Schreck, dass mir schlecht wurde und ich weinen musste. »Das Blut von gammou-jhi ist das Blut von gammou-jhi «, fuhr Remshi fort. »Das Ihre, das Ihres Kindes, ganz gleich. Wenn Sie den Platz Ihres Sohnes einnehmen wollen, dann ist das für mich akzeptabel.«
»Hören Sie nicht auf ihn«, warnte Cloquet. »Sie werden sie nur an das Projekt Helios weiterreichen, um die Familien zu besänftigen.«
Remshi lachte amüsiert. »Natürlich«, sagte er. »Und dann ziehen wir über die Friedhöfe und tragen schwarze Umhänge und zwirbeln unsere Schnurrbärte und machen aus lauter Freude über unsere Ruchlosigkeit ›Har-harr‹.«
Konstantinov, der auf einer wilden Welle Bewusstsein ritt, stöhnte und verstummte wieder. Jacqueline sah ihn an. »Die Ironie hat wohl nie ein Ende«, meinte sie. »Wir haben Natasha gestern Nacht freigelassen. Sie ist irgendwo da draußen, frei wie ein Vogel. Wahrscheinlich sitzt sie gerade im Flieger nach Hause.«
Ich sah Cloquet an. »Keine Ahnung«, meinte er. »Wahrscheinlich ist sie tot.«
»Ich versichere Ihnen, sie ist putzmunter«, widersprach Jacqueline. »Sie lebt und ist frei, auch wenn sie wohl nicht mehr die Frau ist, die sie war, als sie zu uns kam.«
Der adrette grauhaarige Vampir vom Überfall in Alaska reichte Jacqueline eine Spritze. Sie trat um den Altar, kam die vier Stufen herunter, ging den Mittelgang entlang,
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