Bad Moon Rising
Ihre Wangen waren so weich und flaumig wie die Haut eines Pfirsichs. Wenn man keine eigenen Kinder hat, kann man das nicht begreifen . Natürlich hatte ich mit den Augen gerollt über die Begeisterung junger Eltern für ihre Kinder. Ich hatte das hilflose Zucken, die alberne Selbstaufgabe verachtet. Und nun war ich hier, hier war eines meiner eigenen Kinder, und hier, zu spät und von meiner eigenen verdrehten Mutterschaft mit einem Veto belegt, war dieselbe entsetzte Faszination. Sieh doch nur, diese Fingernägel, diese Augenbrauen, diese Nasenlöcher, dieser Mund. Sieh doch nur, dieser dunkle Schimmer, die blinkenden Lichter der Zukunft. Obszön, welchen Liebeszoll ein Kind einfordern konnte, einfach so, nur durch die blanke Existenz, das reine Da-Sein. Einen Zoll, den ich nun nicht mehr nachträglich entrichten konnte, weil ich ihn nicht rechtzeitig leisten konnte, wollte, durfte, wagte.
Denn zu töten, was man liebt, lässt sich mit nichts anderem vergleichen.
Natürlich war es nicht Cloquet gewesen, der uns an die Vampire verkauft hatte. Das war ich selbst gewesen. Sie waren gekommen, weil ich sie auf irgendeine obskure Weise selbst gerufen hatte. Gehörte das denn nicht zur Tradition, dass ein Vampir nicht uneingeladen hereinspazieren konnte? Der erste Stahlspieß, den sie mir durch die Kehle gerammt hatten, war eine zutiefst wünschenswerte Handlung gewesen: Besser, jemand anderer tötet mein Kind als ich selbst.
In diesem Augenblick war ich kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Erstaunlich, wie nahe man dem Kollaps sein kann, ohne vorher zu bemerken, dass man darauf zusteuert. Da ist der Zusammenbruch. Du siehst dich wie durch einen Einwegspiegel, zerbrochen, befreit, egal, was es kostet, denn so rechnet nur das Ego, und das Ego ist fort. Du siehst dich in einem Zimmer aus weichem harmlosen Chaos, in dem niemand auch nur das Geringste von dir erwartet.
Niemand, nur die Kinder.
Ich lag zusammengerollt auf dem Boden, dabei konnte ich mich nicht erinnern, mich hingelegt zu haben. Ich weinte nicht, aber ich wusste, ich konnte mich nicht rühren. Etwas wie meine eigene Stimme sagte immer wieder, was für eine vollkommene, widerliche Versagerin ich sei, aber ich hatte ja die Stille – einen Bruchteil der riesigen mathematischen Stille, die ich in jener Nacht kennenlernte, als ich Delilah Snow begegnete –, um sie zum Schweigen zu bringen. Wenn ich nur lang genug dalag, konnte ich mir wohl auch ein Stück der undurchdringlichen Dunkelheit herbeiholen. Dann würde ich gar nichts mehr sehen oder hören. Noch eine Weile später würden auch die anderen Sinne aussetzen.
Zweiter Teil
Der dritte, immer wiederkehrende Tagtraum
»Ich habe in dem Moment gedacht, man könnte schießen oder nicht schießen … [es liefe] auf dasselbe hinaus.«
Albert Camus – Der Fremde
14
Es geschah im Staat New York, unter einem Augustvollmond, als ich im sechsten Monat war und meinen letzten Mord beging, bevor mich die Schwangerschaft dazu zwang, mir von Cloquet helfen zu lassen. Das Opfer war George Snow, ein vierundsiebzigjähriger Anwalt im Ruhestand, Witwer, vier Kinder, sechs Enkel, drei Urenkel, der allein mit zwei Katzen lebte und jeden Tag drei Meilen ging, angelte, sich auf dem Laufenden hielt, ab und zu mal einen Roman las, eine fettarme Diät pflegte, sich Vierziger-Jahre-Jazz und, in liebendem Gedenken an seine Frau, Joni Mitchell anhörte. Das Familienanwesen war ein sehr gepflegtes Haus mit sechs Zimmern auf einem eigenen Grundstück von sechzehn Hektar Weidegras und Wald zwischen Spencertown im Süden und Red Rock im Norden, keine zwei Meilen vom Beebe Hill State Forest, und in vielleicht fünf Jahren dürfte das alles zu groß sein für George, worüber er nicht nachdenken wollte, doch wenn er ein Rechteck Sonne auf den Eichendielen im Flur bemerkte oder den Geruch von trockenem Holz auf der hinteren Veranda oder die Ruhe des oberen Treppenabsatzes mit seinen dicken Teppichböden, dann tat ihm das im Herzen weh, denn all das hier zu verlassen wäre nach dem Ableben seiner Frau Elaine ein zweiter schmerzlicher Verlust.
Die Logistik des Mordes war einfach gewesen. Die Country Road 22 führte direkt durch den Wald, und es gab üppige Deckung praktisch bis zu Georges Haustür. Cloquet hatte mich eine Stunde vor Mondaufgang in der Nähe des Ortes abgesetzt, wo die Verwandlung stattfinden sollte, und er wollte mich drei Stunden später am vereinbarten Treffpunkt an der Ostseite des Waldes abholen; von dort aus
Weitere Kostenlose Bücher