Bad Moon Rising
Feuerwerkskörper in meiner Wirbelsäule.
Cloquet konnte nicht fahren, also setzte ich mich hinter das Lenkrad, und das Baby in seinem Korb steckte zwischen uns und dem Wolf auf dem Rücksitz. Auch mit Winterreifen war die Fahrt ein anstrengendes, langsames Vorankriechen durch den Wald, aber wir schafften es ohne Zwischenfälle bis zum Highway. Wir hatten einen zweiten Wagen (mit einer Tasche voller Perücken, Brillen und falschen Schnurrbärten, der üblichen Vorsorge) in einem Parkhaus in Fairbanks stehen. Der Plan lautete, die Fahrzeuge zu wechseln und den ersten erreichbaren Flug raus aus Alaska zu nehmen.
Ein Plan mit einem großen Problem: das Kind. Vielleicht bekamen wir Zoë ohne Ausweis auf einen Inlandsflug, aber nicht auf einen internationalen. Und selbst bei Inlandsflügen brauchte sie wohl eine Geburtsurkunde, nahm ich an. Eins dieser scheinbar einfachen Dinge, die sich als ungeheuer schwierig herausstellen würden. Kein Arzt, keine Hebamme, keine Vorsorgeuntersuchungen … Wie genau sollte ich also nachweisen, dass sie mein Kind war? DNA? Wie lange würde das dauern? (Und bei genauerem Überlegen: DNA? Keine Option.) Ich stellte mir die vollkommen berechtigten Fragen der Behörden vor: Wenn ich wusste, dass ich schwanger war, was hatte ich dann in der tiefsten Wildnis von Alaska verloren? War ich verrückt? Auf der Flucht? Hatte ich Vorstrafen? Berechtigte Fragen führten zu Verdachtsmomenten. Verdachtsmomente führten zu Ermittlungen. Ermittlungen führten schließlich zum Horror.
Also keine Behörden. Mein Fälscher wohnte in New York. Er war der erste Name auf Jakes Liste der Personen, denen ich trauen konnte: Rudy Kovatch – DOKUMENTE/IDENTITÄTEN. Ich kannte seine Nummer auswendig und versuchte seit unserer Abfahrt Handyempfang zu bekommen. Bislang erfolglos.
Fünfundzwanzig Meilen weiter hielt ich an. Die Straße wurde zu beiden Seiten von sanft eingeschneiten Wäldern begrenzt. Über uns eine breite Schneise samtgrauer Himmel. Keine anderen Fahrzeuge. Cloquet sah mich fragend an.
»Territoriumsgrenze«, erklärte ich. »Er muss hier raus. So gern ich ihn auch behalten würde.« Ich öffnete die Heckklappe und ließ den Wolf hinaus. Wieder wechselten das Tier und ich kaum einen Blick. Nicht, dass ein Danke nicht angebracht gewesen wäre, nein, aber ein Danke wäre bedeutungslos gewesen. Ich hätte nur mir selbst gedankt. Sein Wesen zog sich wieder in sich zurück, und ich spürte einen leichten körperlichen Trennungsschmerz. Der Wolf schüttelte sich, schnüffelte am Boden und tat einen geduckten, schnellen Sprung in die Schatten unter den Bäumen. Fort.
13
»Ich krieg nichts mehr runter«, stellte Cloquet fest. Wir waren im Grand Hotel in Anchorage, in einem Zimmer im zweiten Stock mit Blick auf die Lichter des Eisenbahnbetriebswerks. Es war kurz nach Mitternacht. Preußischblauer Himmel mit dunklen Wolkenflecken über dem großen kalten Bewusstsein der Wassermassen des Knik Arm, der im schwindenden Licht blausilber, dann schiefergrau, dann schwarz geworden war. »Mir wird schon schlecht.«
In Fairbanks zu bleiben hätte nur Ärger gebracht, doch davon abgesehen raubte uns allein schon der Gedanke den Atem, stillzusitzen und nichts zu tun (während Jacquelines Wissenschaftler am liebsten loslegen wollten). Ich war also die dreihundertfünfzig Meilen nach Anchorage durchgefahren und hatte nur angehalten, um Zoë zu stillen, während Cloquet morphinbenebelt auf dem Rücksitz döste. Ich hatte die Fahrt in einer Art Schock verbracht, durch den Allerweltsdinge größte Bedeutung erlangten: ein Texaco-Schild; rote Kühe auf schneebedecktem Feld; eine Krähe, die vier Sprünge tat, um abzuheben; das riesige Rad eines überholenden Lasters. Ich spürte, wie klein mein ganzes Leben war, wie viel der Planet schon gesehen hatte, dass solche Dinge wie hier keinerlei Eindruck hinterließen. Nur Kriege und Erdbeben wurden noch müde kommentiert. Wenn etwas geschah, das für dich alles war, dann bekam man schnell mit, dass es für alle anderen nichts war. Dazwischen sah ich andauernd jüngere Versionen meiner selbst, die mich von innen heraus betrachteten, und alle waren sie voller faszinierter Enttäuschung darüber, was aus ihnen geworden war. Ich. »Der moderne Erwachsene«, hatte Jake geschrieben, »kann seinem inneren Kind nur eins sagen: ›Tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid …‹« Und zu seinem biologischen Kind wohl auch, dachte ich. An einer Tankstelle kaufte ich Windeln und
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