Bädersterben: Kriminalroman
unsympathischer Mann, stand ein wenig abseits. Er schien sich in der fremden Umgebung bewusst darüber zu sein, dass er nicht die wichtigste Person in diesem Raum der Trauer war. Wie immer begann auch dieser Abschied vom Leben mit getragener Orgelmusik, die Hein jedoch völlig unbekannt war. War es vielleicht ein Stück, das die beiden Liebenden verbunden hatte? Was mochte der hinterbliebene Ehemann dabei denken? Bei den Beerdigungen der Alten wurden glücklicherweise meistens nur die bekannten Orgelstücke vorgetragen.
Als die Orgel verstummte, öffnete sich knarrend das große Hauptportal der Kirche, und die junge Revierleiterin Clausen von der Polizeiwache zwängte sich durch den Türspalt, was sich schwierig für sie gestaltete, denn sie trug ihren kleinen Bengel auf dem Arm. Über Clausens Scheidung wurde heute noch im Dorf wild und kontrovers spekuliert.
Der Pastor schielte ein wenig tadelnd zu der jungen Frau mit ihrem Kind, bevor er die Geschichte aus dem Neuen Testament mit der Ehebrecherin vortrug, die von der aufgebrachten Menge gesteinigt werden sollte. Der Pastor erhob theatralisch seine Stimme. »Nein, nicht mehr Auge um Auge und Zahn um Zahn, darum kann es nicht gehen. Kein Mensch ist frei von Sünde, aber es ist auch kein Mensch so voller Sünde, dass er nichts mehr wert ist. Bei Johannes steht: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.‹ Aber wer von uns Anwesenden hat noch nie einen Fehler begangen, der unter ungünstigen Umständen eine Katastrophe hätte herbeiführen können? Wohl jeder hat in seinem Leben schon Anlass gehabt, Gott zu danken, dass das eigene Fehlverhalten nur harmlose Folgen gezeitigt hat.«
Hein Timm wusste wieder, warum er an normalen Sonntagen nie in die Kirche ging. Er hasste diese vagen Kurvenfahrten zwischen Moral und Unmoral, und auch der neue Pastor schien die Leitplanken des Lebens noch nicht zu kennen, an denen alle Grundsätze gerettet werden konnten oder zerschellten.
Jetzt ging ein Raunen durch die Menge, weil der kleine Junge auf dem Arm der Clausen nach vorn gezeigt und Papa gerufen hatte. Seine Mutter legte ihm vorsichtig den Zeigefinger auf den Mund. Viele Dorfbewohner versuchten, dabei den Anblick der Angehörigen zu erheischen. Die blickten jedoch allesamt stumpf zu Boden.
Der Pastor beendete die Unruhe, indem er seine Predigt fortsetzte. »Ja, es ist schwer, eine versöhnliche Haltung auch gegenüber Menschen zu entwickeln, die vielleicht ungewollt Schuld mit schweren Folgen für andere auf sich geladen haben. Doch muss man nicht gerade Verständnis aufbringen für jemanden, dem dieses Glück nicht zuteil wurde und der plötzlich am Pranger steht? Anna Maria Rasmussen war dieses Glück nicht vergönnt gewesen. Sie war zwar dabei, ihr Leben neu zu ordnen, um wieder Glück empfinden zu können, auch wenn es die hier Anwesenden und Vertrauten verletzen mag, sodass sie es kaum fassen können. Ihrem Bemühen wurde aus niederträchtigen Motiven ein gewaltsames Ende gesetzt, doch mit den zahlreich versammelten Vertrauten von Anna Maria Rasmussen hier im Gotteshaus wollen wir sie unserem liebenden Gott überlassen, der sie zu sich rufen und zukünftig beschützen wird.«
Die Verstorbene war zwar bis auf das Geschwätz im Dorf völlig unbekannt, aber immerhin schien der neue Pastor noch die Kurve gekriegt zu haben. Der hob jetzt beschwörend die Arme zur Kuppel der Kirche, um sie anschließend auf die Eingangstür zu senken. »Wenn Sünden von uns begangen worden sind, die wir hier im Gotteshaus versammelt sind, dann hat uns der Messias durch sein Leiden davon erlöst. Wir müssen gleichermaßen Achtung und Ehrfurcht vor den Lebenden und den Toten haben. Begleiten wir Anna Maria Rasmussen auf ihrem letzten Gang.«
Der kleine Junge im Arm der Clausen schien nicht zu verstehen, warum sein Papa so weit weg und so unendlich traurig war. Er wedelte immer wieder kräftig mit der Hand, um endlich seine Gunst zu erlangen. Doch im nächsten Moment wurden die mächtigen Türen der Kirche von unbekannten Händen aufgezogen, und das einfallende Sonnenlicht lenkte die Aufmerksamkeit der Trauergemeinde auf den Sarg, den sechs Träger vorsichtig anhoben, um die filigrane Tischlerarbeit mit den sterblichen Resten feierlich auf den letzten Weg zum Gottesacker zu bringen.
Hein Timm erstaunte schon, dass die junge aufstrebende Polizistin mit ihrem Sohn an der Tür stehen blieb und ungerührt den Zug der Trauernden passieren ließ, die jetzt dem Sarg folgten.
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