Bären im Kaviar
Chamberlin. Er war Korrespondent des »Christian Science Monitor«,
und während seine Frau den Tee zubereitete, pflegte er sich des längeren über
irgendwelche abstrusen Fragen der russischen Geschichte oder Politik
auszulassen. Die Hungersnot von 1932/33 ging gerade zu Ende, und die meisten
Journalisten schäumten vor Wut, weil man ihnen nicht erlaubte, die
Hungergebiete zu besuchen.
»Ich las heute ein kleines
historisches Werk über die ukrainische Hungersnot von 1732«, hörte ich William
Henry noch sagen, »und was meinen Sie: Ein ganzes Jahr lang durfte damals kein
Ausländer außerhalb Petersburgs wohnen.«
Viele Auslandskorrespondenten der
großen amerikanischen Zeitungen waren regelmäßige Besucher dieser
Freitagnachmittage. Am berühmtesten war damals Walter Duranty. Sein großer journalistischer
Coup war es gewesen, auf Stalin — und nicht auf Trotzki — als Nachfolger Lenins
zu setzen. Immer witzig, immer bereit, ein Argument von verschiedenen Seiten zu
beleuchten, rief er in jeder Gesellschaft alsbald lärmende, aufgeregte
Auseinandersetzungen hervor.
Als ich nach Moskau kam, suchte ich
Duranty als ersten auf. Durch ihn fand ich Zimmer und Lehrerin. Er war es auch,
der mir gleich den Ratschlag gab:
»Wenn Sie nach hier gekommen sind, um
ein Buch über Rußland zu schreiben, dann tun Sie’s in den nächsten zehn Tagen.
Andernfalls werden Sie zehn Jahre brauchen, um herauszukriegen, was das hier
eigentlich alles bedeutet.« Mein Visum war nach einem Monat abgelaufen, ich
bekam es aber ohne große Schwierigkeiten für einen zweiten Monat verlängert.
Als auch dieser sich seinem Ende zuneigte, bat ich um weitere Verlängerung.
Diesmal war die Antwort: »Nichts zu machen!« Zwei Monate sei das Äußerste. Ich
versuchte, Moskauer Korrespondent eines kleinen Blattes in Texas zu werden, das
dem Vater eines Kameraden aus West Point gehörte, und wies einen Brief mit
meiner Anstellung vor. Sie suchten die Zeitung in einem ihrer Register,
lächelten und gaben mir den Brief zurück — immer noch nichts zu machen. Ich
fragte Duranty und die anderen Korrespondenten um Rat. Roosevelt würde in
allernächster Zeit jemanden nach Rußland schicken, und wenn ich dann nicht mehr
hier war, konnte ich alle Hoffnung auf einen Posten in der neuen Botschaft
begraben. Duranty setzte seine sämtlichen Beziehungen ein—ohne Resultat. Nur fünf
Tage blieben noch, bis ich Rußland verlassen mußte.
In diesem Augenblick berichtete die
»Prawda«, Botschafter Bullitt sei zu einem vorbereitenden Besuch nach Moskau
unterwegs und treffe innerhalb zehn Tagen ein. Ich entschied, daß es gescheiter
sei, ein bißchen unterzutauchen, anstatt noch länger jammernd nach einem Visum
herumzurennen.
In Moskau unterzutauchen ist gar keine
einfache Sache, da man sich alle drei Minuten auszuweisen hat. (Zwar hatte
schon Lenin versprochen, eine der von den Bolschewisten beabsichtigten
Segnungen werde die völlige Aufhebung des Paßwesens sein, doch war man nach
sechzehn Jahren eben noch nicht soweit gekommen.) Ein paar Tage klappte alles
ausgezeichnet. Ich hielt mich vom Registrierungsbüro, von der Bank, vom
Intourist und allen sonstigen Stellen fern, von denen ich plötzlich nach meinen
»Papieren« gefragt werden konnte. Nach fünf oder sechs Tagen nahm ich an, die
Polizei hätte vielleicht von sich aus Sehnsucht nach mir, und besuchte für
einige Zeit Freunde. Aber die Polizei schien mich vergessen zu haben.
Endlich traf, von Fahnenschwenken und
Trara, Musikgeschmetter und Zeitungsschlagzeilen begrüßt, Bullitt ein und zog
ins National-Hotel. Die Zeitungen waren voller Bilder, auf denen er dieses
Kommissariat, jene Fabrik und noch ein Ballett besuchte. Leitartikel ließen
sich geräuschvoll über die nun für alle Ewigkeit geschlossene Freundschaft
zwischen Amerika und der Sowjetunion aus. Ich fühlte mich daraufhin schon so
sicher, daß ich wieder in mein Zimmer übersiedelte. Niemand würde so weit
gehen, Bullitts Besuch durch Unfreundlichkeiten gegen einen Landsmann zu
verderben, der zudem noch hatte durchblicken lassen, daß er ein intimer Freund
des hohen Gastes sei. (Tatsächlich kannte ich seinen Bruder flüchtig.)
Aber: Bullitt in Moskau haben und ihn
sehen waren zwei gänzlich verschiedene Dinge. Als ich Jahre vorher zum
erstenmal ins Ausland gereist war, hatte mich einer meiner Onkel sorgfältig
unterrichtet, wie man einen Botschafter aufsucht. Ich hätte kein Recht, setzte
er mir auseinander, eine Audienz zu verlangen,
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