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Bären im Kaviar

Bären im Kaviar

Titel: Bären im Kaviar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles W. Thayer
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seine
feierliche, einstündige Ansprache beendet, und ich war an der Reihe.
    Zitternd, mit weichen Knien, wankte
ich zur Rednertribüne und umklammerte das Pult mit beiden Händen. Nach einem
letzten Blick auf das zerknitterte, kreuz und quer durchgestrichene und
unleserliche Konzept vor mir begann ich:
    »Genossen…«
    Die tausend Kinder im Saal heulten vor
Wonne über den fremden Akzent. Der Komsomolführer lachte vergnügt, weil ich
nach all dem Gezanke doch sein Wort gebrauchte. Ich wurde dunkelrot.
    »Freunde«, begann ich erneut,
»anläßlich der sechzehnten...« — meine Blicke irrten über die Hieroglyphen auf
dem Papier, um das Anschlußwort zu finden. (Es ist auf russisch schwierig
auszusprechen: »Godowschtschina«.) Noch ehe ich es gelesen hatte, brüllten
tausend Souffleure im Chor:
    »Godowschtschina!«
    »Godowschtschina«, wiederholte ich und
fuhr fort, »der Großen Oktoberrevolution überbringe ich Grüße aus Amerika«, und
setzte mich aufatmend wieder auf meinen Platz. Das Getöse war ohrenbetäubend.
Die Kinder schrien nach mehr. Der Direktor schüttelte mir die Hand, als ob ich
soeben den Weltrekord im Stabhochspringen gebrochen hätte. Der Komsomolze
grinste wohlgefällig über seinen politischen Triumph. Mir fiel ein, daß es ein
Gesetz gab, das privaten Bürgern der USA unter Strafe verbot, sich in die
Angelegenheiten fremder Staaten zu mischen!
    Schließlich legte sich der Aufruhr.
Das Präsidium verließ die Bühne, und eine Reihe kurzer Aufführungen und
Gesangsvorträge der Schüler beschloß die Darbietungen des Morgens. Danach bekam
jeder eine Terrine Suppe, und anschließend gingen wir heim. Schenja, der Held
der Stunde, umklammerte mit seiner kleinen Faust krampfhaft meine Hand und eskortierte
mich stolz die Straße hinab. Zwar hatte ich das sowjetische Erziehungssystem
nicht in voller Tätigkeit bewundern können, doch entschädigte mich der erste
Unterricht in internationaler Redekunst vollauf. Die Zukunft sollte mir davon
noch eine heillose Masse bescheren!
    Neben den Schulkindern hatte ich bald
auch eine Menge Freunde unter den Universitätskollegen der Tochter der Wirtin.
Sie wurde von allen möglichen Verehrern besucht, die gern die Gastfreundschaft
eines Hauses genossen, das in der letzten Zeit durch mich mit dreißig Dollar in
Devisen gesegnet war. Wir besuchten zusammen Theater und Balletts und zum
Schlittschuhlaufen den Kultur- und Vergnügungspark. Gelegentlich wurde ich auch
zu einem Besuch in ihre kleinen und ziemlich ungemütlichen Buden gebeten. Sie
interessierten sich brennend für alles Amerikanische, und diese Neugierde half
die Fremdenfurcht besiegen, die allen Russen seit Generationen von der Polizei
beigebracht worden ist. Überdies: Nachdem Roosevelt Kalinin »Freund« genannt
hatte und da in Kürze die politischen Beziehungen zwischen den Ländern
wiederaufgenommen werden sollten, hatten sie eine prächtige Entschuldigung
dafür, ihre angeborene Freundlichkeit und grenzenlose Gastfreiheit offen zu zeigen.
    Russische Gastlichkeit ist eine
seltsame Sache. Schon seit langer Zeit kennen die Russen in ihrem
wirtschaftlichen und politischen Leben keine Sicherheit mehr. Die Polizei — ob
zaristisch oder bolschewistisch — konfiszierte und arretierte nach Belieben. So
wurde allmählich ein persönlicher Besitz als ein recht vergänglich Ding
betrachtet, und wenn heute ein Russe einmal ein bißchen Glück hat, versucht er,
es so schnell wie möglich mit seinen Freunden zu teilen, ehe irgend jemand es
ihm wieder wegnimmt. Darüber hinaus aber erwartet er von jedem zeitweilig mit
Glücksgütern gesegneten Freund genau dasselbe.
    Etwa ein Jahr nach meiner Ankunft in
Moskau wurde einer meiner Freunde, ein junger Schauspieler des Moskauer
Theaters, in ein größeres Rollenfach übernommen, und sein Monatsgehalt erhöhte
sich gleichzeitig von hundertfünfzig auf zweihundertfünfzig Rubel. Das mußte
natürlich gefeiert werden. Er rief mich an und sagte, er wolle für etwa dreißig
Freunde ein kleines Fest veranstalten. Ob ich nicht auch kommen möchte? Ich sei
zwar der einzige Ausländer, aber da mir die meisten Gäste bekannt seien, mache
es nichts aus. Ich sagte sofort zu. Als er schon einhängen wollte, kam ihm ein
Gedanke.
    »Es gibt nur ein paar einfache Sachen
zu essen und zu trinken, und ich weiß, Sie mögen gern Whisky, den ich hier
nicht bekommen kann. Vielleicht bringen Sie sich selber welchen mit?«
    »Wieviel hatten Sie gedacht?«
    »Oh«,
meinte er, »es

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