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Bären im Kaviar

Bären im Kaviar

Titel: Bären im Kaviar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles W. Thayer
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hielten. Ich stieg aus und ging zu ihr hinüber.
    »Wo sind die anderen alle?«
    »Weg«, sagte sie düster, »alle sind
weg. Meine zwei Jungens haben sie mitgenommen. Mein Haus haben sie
niedergebrannt.« Sie wies auf die verkohlten Überreste eines Bauwerks nebenan.
    »Meinen Mann — erschossen. Die anderen
rannten fort in die Stadt, Kinder und alle. Aber ein paar Leute sind noch da,
und sie geben mir zu essen.« Sie hielt den Topf hoch und zeigte mir einen Brei
aus Kaff und Wasser, den sie mit den Fingern in den Mund schlabberte. »Meine
drei Mahlzeiten für heute.«
    Ich kletterte wieder in den Wagen und
ließ mich zur Stadt zurückfahren. Hungersnot hatte ich für lange Zeit genug
gesehen.
    Ein Hotelzimmer war in Armavir nicht
zu bekommen. Der Stationsvorsteher merkte, daß ich Ausländer war, und lud mich
ein, meine Sachen in sein Büro zu stellen und neben dem Ofen zu schlafen.
    Es sah nicht danach aus, als ob die
Nacht sehr bequem werden würde. Ich machte deshalb erst einen Spaziergang durch
die Stadt, in der Hoffnung, müde genug zu werden, um auf dem harten Boden
schlafen zu können. Kaum hundert Meter vom Stationsgebäude entfernt, während
ich eine Straßenlaterne passierte, tauchte aus der Dunkelheit vor mir ein Wagen
mit Brennholz auf. Der Fahrer saß gegen die Ladung gestützt auf dem Bock und
schlief friedlich. Plötzlich schwärmte aus einem Seitenweg etwa zwanzig Meter
weiter unten eine Horde kleiner Wesen hervor und rannte auf mich zu. Als ich
sie so geduckt über den Boden hinhuschen sah, hielt ich sie zuerst für
wildernde Hunde oder sogar für Wölfe; erst als sie näher kamen, erkannte ich,
daß es Kinder waren. Ihre Gesichter glichen denen müder Greise; ihre Kleider,
viel zu groß für sie, schleiften beim Laufen im Schmutz nach. Der Anführer der
Gruppe von etwa fünfzehn Kindern war etwa zwölf bis vierzehn Jahre alt. Die
Kleinsten, die nicht Schritt halten konnten, stolperten hinterdrein. Ihren
schmalen Gesichtern nach, die zugleich seltsam ausgemergelt und alt aussahen,
schätzte ich sie auf sieben oder acht Jahre. Ich hatte schon in Moskau von
diesen verwahrlosten Kindern gehört, die von der Hungersnot aus ihren Dörfern
vertrieben worden waren, sich in den Städten zu Banden zusammenschlossen und
von dem vegetierten, was sie erbettelten, borgten oder stahlen.
Ungeachtet ihrer Jugend hatten sie sich bald einen Ruf von Gewalttätigkeit und
Mord erworben, dessen sich kaum ein sizilianischer Straßenräuber rühmen konnte.
Es war meine erste persönliche Begegnung mit ihnen, und ich kann nicht leugnen,
daß ich durch und durch entsetzt war.
    Ich hielt bei der Lampe an und lehnte
mich gegen sie. In der Tasche hatte ich eine kleine Derringer-Pistole, nicht
viel größer als meine Handfläche. Ich trug sie in Rußland immer bei mir, doch
zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben zog ich sie jetzt hervor und
entsicherte sie. Der bloße Gedanke, auf Kinder zu schießen, wäre gräßlich; aber
die Aussicht, ermordet zu werden, war noch weniger angenehm. Ich stand und
wartete. Der Anführer kam näher. Jetzt war er — oder sie, man konnte es weder
an den Lumpen noch an dem angespannten kleinen Gesicht erkennen — nur noch drei
Meter entfernt. Während ich überlegte, ob ich ihn vielleicht mit einem Schuß
durch die Tasche verjagen könnte, sah ich, daß er mich gar nicht beachtete. Er
— oder sie — rannte an meiner Laterne vorbei dem Holzwagen nach, die wilden,
gierig blitzenden Augen auf das Brennholz gerichtet. Der Rest der Bande
preschte ebenfalls an mir vorbei. Ihre langen, filzigen Mäntel, deren Ärmel
weit über die kleinen Hände fielen, streiften mich fast.
    Erst als sie den Wagen eingeholt
hatten, begriff ich den Vorgang. Mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen
stürzten sie los und waren Augenblicke später schon wieder in den dunklen
Seitenstraßen verschwunden. Jeder schleppte so viel Holz mit, wie er nur eben
konnte, und sie gingen so katzengeschickt vor, daß der Fahrer hinterher immer
noch schlief. Von der Ladung war genau so viel übriggeblieben, wie erforderlich
war, ihn auf seinem hohen Sitz zu stützen. Viele Jahre später interviewte ich
einen jungen russischen DP, der sich um eine Stelle bei der »Stimme Amerikas«
bewarb. Er erzählte mir, daß er aus dem Kubangebiet stamme und durch eine
Kombination von Hungersnot, die seine Mutter tötete, und Deportation, die ihm
den Vater nahm, verwaist sei. Ich fragte, wie er es denn überhaupt geschafft
habe,

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