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Bären im Kaviar

Bären im Kaviar

Titel: Bären im Kaviar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles W. Thayer
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durcheinander auf den
Boden. Ich gäbe was drum, wenn ich behaupten könnte, ich hätte sie aus Taktik
fallen lassen, um Zeit zu gewinnen. Leider war es aber mal wieder wie damals,
als ich während meiner traurigen Fußballkarriere jeden Ball verfehlte. Beim
Aufsammeln machte ich zwei wichtige Feststellungen: a) Der Text war in
russischer Handschrift geschrieben, die ich kaum entziffern konnte, weil ich
immer noch mit großen Blockbuchstaben arbeitete, und b) das Stück war Bulgakows
»Tage der Familie Türkin«, das ich bereits verschiedentlich im Theater gesehen
hatte.
    »Es
ist sehr lang«, sagte ich, sobald ich die Papiere wieder geordnet hatte, »und
Sie haben nicht viel Zeit. Soll ich es nicht im Überfliegen zusammenfassend
wiedergeben?« Bullitt war einverstanden.
    Ich blätterte die Seiten mechanisch
um, während ich in kurzen Worten erzählte, was ich von dem Stück noch wußte.
Zum Schluß lächelte der Botschafter.
    »Ich schätze, das reicht. Ich brauche
jemanden wie Sie als persönlichen Dolmetscher. Studieren Sie fleißig weiter,
und ich werde Sie, wenn ich im Februar zurückkomme, bei mir anstellen.«
    Eine Minute später schritt ich leicht
benommen die Treppen hinunter. Erst in der Nähe des Portiers raffte ich mich
wieder zusammen.
    »Besorgen
Sie mir ein Intourist-Taxi«, sagte ich im Überschwang des Gefühls.
    Ich wollte auf der Stelle Duranty
aufsuchen, um ihm für seine Hilfe zu danken. Außerdem besaß er einen
hervorragenden schottischen Whisky, nach dem ich plötzlich ein dringendes
Bedürfnis verspürte.

Wie man eine Botschaft einrichtet
     
     
     
    Zwei Tage später reiste Botschafter
Bullitt wieder nach Washington. George Kennan, damals Legationssekretär im Auswärtigen
Dienst, blieb in Moskau zurück, um Räumlichkeiten für die neue Botschaft zu
besorgen und einzurichten, die im Februar ihre Tätigkeit aufnehmen sollte. Ich
lernte weiterhin täglich zehn bis zwölf Stunden allein oder mit meiner Lehrerin
Russisch. Um Weihnachten herum platzte mir fast der Kopf vor lauter Endungen,
unregelmäßigen Verben und einem wüsten Durcheinander von Vokabeln. Mir schien
ein Urlaub angebracht, zumal das Wetter in Moskau ausschließlich aus Schnee,
Regen und Nebel bestand.
    Ich entschloß mich zu einem Ausflug in
den Kaukasus — und zwar ohne Intourist-Anstandsdame. Ich wollte nach Sotschi,
einem Sommerkurort am Schwarzen Meer. Da es in dieser Jahreszeit keine
durchgehenden Züge dorthin gab, mußte ich in einer kleinen Stadt namens Armavir
umsteigen.
    Wie in Rußland üblich, hatte der
Moskauer Zug Verspätung, so daß ich in Armavir über einen Tag auf den nächsten
Anschluß warten mußte. Armavir liegt im Kubangebiet, wo die Hungersnot des
vergangenen Jahres besonders heftig gewütet hatte. Um die Zeit totzuschlagen,
nahm ich mir einen vierrädrigen Wagen — Droschki — mit einem geschundenen,
brandmageren Klepper davor. Der Kutscher war ein bärtiger alter Bauer. Ich
sagte ihm, er solle mich durch einige Dörfer in der Nachbarschaft fahren.
    «Ich
werde Ihnen Dörfer zeigen«, sagte er bitter, »wie Sie es in Ihrem Leben noch
nicht gesehen haben.« Und er tat’s.
    Das
erste Dorf, in das wir kamen, bestand aus etwa zwanzig bis dreißig
Bauernhütten. Ein Drittel davon war bewohnt, ein weiteres Drittel bis auf den
Boden abgebrannt, und der Rest stand verlassen da und zerfiel. Ein, zwei Kinder
mit aufgeblähten Bäuchen, krank vor Hunger, spielten lustlos auf der Straße.
Ein paar alte Bauern scharrten in den trostlosen kleinen Gärten hinter den
Hütten herum.
    Der Kutscher winkte ihnen im
Vorüberfahren zu, und sie winkten traurig und müde zurück. »Das ist mein Dorf«,
erklärte er, »aber ich bin mit meinem Pferd in die Stadt gegangen, ehe die
Kollektivierung begann. Kollektivierung!« Er spuckte verächtlich aus. »Kollektivierung!
Zum Teufel — den Hunger haben sie uns gebracht!«
    Das nächste Dorf war kleiner. Nur etwa
zehn oder zwölf Hütten waren zu sehen. Etliche waren abgebrannt, der Rest stand
leer. Nichts rührte sich. Kein Hund bellte. Es war tot. Der Kutscher fuhr ohne
ein Wort der Erläuterung hindurch.
    Einige Kilometer weiter kamen wir an
ein drittes Dorf. Es war nicht größer als das vorige, doch sahen wir auf den
Feldern ein paar Männer und Frauen mit Hacken arbeiten. Im Dorf selber waren
keine Kinder, überhaupt niemand, außer einer klapprigen, elenden Alten, die auf
der Schwelle einer baufälligen Hütte saß und laut schmatzend aus einem irdenen
Topf aß. Wir

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