Bahnen ziehen (German Edition)
Stunden Glück – Schlaf, Essen, Dösen, Strand –, bis wir nachmittags um halb fünf wieder ins Becken müssen.
Die Hitze liegt auf uns wie eine Decke. Im Hotel hängen wir die nassen Handtücher zum Trocknen über das Balkongeländer. Die Sonne steht jetzt noch höher und brennt noch heißer herunter; manche von uns duschen, andere schlafen oder frühstücken. In unserem Zimmer macht Rachel Pfannkuchen. Zu hungrig, um zu warten, nimmt sie sich einen mit den Fingern, gießt sich Ahornsirup in die Handfläche und isst das Ganze lachend. Bis zum Mittag sind die meisten von uns unten am Strand, breiten die Handtücher aus, sonnen sich oder planschen in den Wellen. Erin lässt sich die Haare flechten, die Zopfenden werden mit roten, grünen und gelben Perlen versehen. Die Sonne verbrennt ihr die Kopfhaut; nach unserer Rückkehr nach Toronto wird sie die Zöpfe noch einen Monat lang tragen. Wir schwimmen nicht im Meer, sondern stehen in den Wellen herum und lassen uns sanft wiegen. Wir bilden im flachen Wasser kleine Gruppen und unterhalten uns, während uns die Sonne auf die Schultern brennt. Ein paar üben Rückwärtssaltos oder sehen sich mit der Schwimmbrille unter Wasser um. Im offenen Wasser verändert sich unser Maßstab, wir sind winzig.
An Silvester geht das Team in einem Hotelrestaurant an einem nahe gelegenen Strand essen, aber irgendwie schaffe iches, meine Zimmergenossinnen zu überreden, ein schickes Spaghetti-Dinner auf unserem Balkon zu machen und uns erst danach, um kurz vor zwölf, dem Rest der Gruppe anzuschließen. Zwischen den Trainings nimmt uns jemand mit in die Stadt, und wir verbringen den Nachmittag damit, die Zutaten zusammenzusuchen. Abends nach dem Training kochen wir gegen die Erschöpfung an: Spaghetti mit frischer Tomatensoße, zwei Laib Knoblauchbrot und gebackene Bananen. Wir decken den Tisch mit einem weißen Tischtuch, ziehen uns unsere schönsten Kleider an – Shelley weiße Jeansshorts und ein neues Lacoste-Hemd, ich ein gepunktetes Kleid von Le Château, Rachel ein trägerloses Top und Jeans, Erin ein Ocean-Pacific-Minikleid – und zünden Kerzen an. Als die anderen Schwimmer sich auf den Weg zum Restaurant machen, sehen sie das Flackern der Kerzen auf unserem ebenerdigen Balkon und kommen beeindruckt näher. Wir unterhalten uns mit britischem Akzent und verscheuchen sie von unserem Tisch. Danny schnappt sich drei Stück Knoblauchbrot, pustet unsere Teelichter aus und rennt davon, während er sich das Brot in den Mund stopft und lauthals johlt.
Kevin, den Erin gut findet, will in seinem Zimmer bleiben und Silvester verschlafen. Als ich das höre, finde ich ihn plötzlich auch gut. Nach dem Essen bittet mich Erin, sie zu ihm zu begleiten, um ihn zum Mitkommen zu überreden, aber er will nicht; er hat sich schon die Zähne geputzt. Wir überlassen ihn seinem Bett. Erin ist enttäuscht; sie wollte ihn um Mitternacht küssen. Als wir seine Tür zumachen, werfe ich noch einen Blick auf seinen Körper unter der geblümten Hoteldecke, das grünliche vom Chlor gebleichte Haar, das Gesicht zur Wandgedreht. Kevin hat einen kleinen, brutalen Mund, der mir gefällt.
Zwölf Jahre später stehe ich wieder im Meer und fühle mich winzig. James hat mich zu einem Kurzurlaub mitgenommen, unserem ersten gemeinsamen. Ich habe keine Ahnung, wie man »Urlaub« macht, wie man am Strand liegt und sich entspannt, Händchen haltend durch die Wellen watet, sich zum Dinner umzieht, in Abendkleidung herumstolziert, Massagen bucht. Am ersten Tag ziehe ich mich beleidigt mit einem Kurzgeschichtenband von Alice Munro ins Zimmer zurück, irritiert von der Erwartung, dass mir Dinge Spaß machen sollen, die mir noch nie Spaß gemacht haben. Dann kommt mir der Gedanke, dass ich jetzt zu den normalen Menschen im Hotel nebenan gehöre, die Nirvana hören. Es fühlt sich gut an, eine neue Art von gutem Gefühl, dem ich noch nicht ganz traue, aber immerhin ist es nicht schlecht. Während James eine Tennisstunde nimmt, lege ich die Strokes auf und tanze, Luftgitarre spielend, im Bikini ums Sofa. Als er zurückkommt, habe ich bessere Laune.
Wenn ich James in den Wellen zusehe, wird mir klar, dass er im Leben nicht Härte und Entbehrung sieht. Für ihn ist das Leben zum Genießen da, es geht ihm nicht um die Pflicht, sondern um die Kür – im buchstäblichen wie im oberflächlichen Sinn. Das kann ich verstehen: die Kür, das Konzeptuelle, das Seltene, das Inspirierte und das Fantastische. James bringt mir das
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