Bahnen ziehen (German Edition)
kann.
Danke. Das Management.
S T. BARTS
St. Barts, letzter Dezembertag 2009. Das Segelboot liegt vor der Küste. Es ist vier Uhr nachmittags, die Sonne steht tief, ist heiß und dottergelb. Wir vier – André, Xin, James und ich – beschließen, mit Flossen zum Strand zu schwimmen. Ich bin die stärkste Schwimmerin, James ist der schwächste.
Ich bin das Schwimmen in Becken gewohnt, bin es gewohnt, vier Wände und den Grund zu sehen. Entfällt diese Klarheit, werde ich nervös. Ich bilde mir Dinge ein. Haie, die schlüpfrigen Flanken großer Fische, wabernde Teile gesunkener Fregatten, dunkles, rostendes Eisen, Strömungen. Ich kann am Strand entlangschwimmen, wo mein gewohnter Zug in der Brandung schlingert, wo unter mir der geriffelte Sandboden tanzt, doch irgendwann graut es mir vor dem unendlichen Horizont, dem trüben blauen Gedanken an den schieren Abgrund – den Kontinentalschelf.
Als ich in meinem Erdkundebuch in der vierten Klasse einen Querschnitt des Schelfs sah, fuhr ich den Weg vom Strand ins Meer mit dem Finger nach, stellte mir vor, dass ich es wäre, stellte mir die zunehmende Tiefe unter meinem strampelnden Körper vor, mein Schweben darüber unheimlich und flüchtig. In Seen denke ich an uralte Baumstämme, die kreuz und quer am Grund liegen, schwarze Städte aus verrottendem Holz mitskelettierten Schneisen. Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Fuß etwas streife, wie ich den faserigen Schlamm aufwühle. Das Wrack der Edmund Fitzgerald. Das Monster von Loch Ness. Wenn ich im Wasser bin, vermeide ich es, zu nah am Rumpf eines Boots entlangzuschwimmen oder an den grünen Pfosten eines Piers. Jede ungewohnte Masse in meiner Nähe ist schwer zu ertragen. Umso schlimmer, wenn sie dunkel ist. Berauschend und grauenhaft.
James und ich sind vor ein paar Jahren mit André in der Ägäis vom Segelboot aus geschwommen. Das Boot lag in einer kleinen Bucht vor Anker. Die Sonne war bereits untergegangen, und der Himmel war dunkelblau. Ich war unter Deck und hörte ein lautes Klatschen vor dem Bullauge. André rief nach uns.
Das Wasser war schwarz, doch Andrés Körper leuchtete, eine marsmännchengrüne Silhouette. Phosphor. Ich wollte unbedingt auch hinein. Ich sprang von der Leiter so weit weg ich konnte, und begann, um das Boot herumzuschwimmen. James kam nach mir ins Wasser und schwamm in die andere Richtung, also drehte ich um und schwamm zu ihm, weil ich in der Nähe des dunklen Schiffsrumpfs nicht allein sein wollte. Ich schlang die Arme um seine kühlen Schultern, erfüllt von Angst und Hochgefühl. In dieser Nacht, beim Schwimmen im Phosphor, unter Sternen und Wolkenfetzen, die sich im glitzernden, lebendigen Wasser spiegelten, fühlte ich mich losgelöst und winzig. Auf einer Seite ragte der Bug des Boots dunkel und weit aus dem Wasser hinaus; auf der anderen lief das Ankertau straff in die Tiefe. Der vollkommene Alptraum. Ich schwamm einmal mit James um das Boot herum, dann fand ich die Leiterund setzte mich mit klopfendem Herzen auf die Sprossen. Ich spielte mit dem glitzernden Wasser zwischen meinen Knien. Es war mein einunddreißigster Geburtstag.
Den Blick auf die Küste von St. Barts gerichtet, ziehen wir uns die Flossen an und schwimmen los. Schnell bin ich zwanzig Meter vor James. André und Xin sind zehn Meter vor mir. James schwimmt Brust, mit hoch erhobenem Kopf. Ich schwimme zu ihm zurück und frage ihn, ob er nicht lieber kraulen will, doch er antwortet nicht. Ich erkläre ihm, dass die Flossen den Kraulbeinschlag unterstützen, aber beim Brustbeinschlag eher hinderlich sind. Er antwortet nicht.
Im Wasser spüre ich meinen Körper intensiv. Wenn ich im Wasser bin, will ich schwimmen, bis ich meine Glieder durch und durch und die vertraute Anspannung spüre. Ich schwimme zwanzig lange, starke Züge und sehe mich um. Ich habe André und Xin überholt; James ist nur noch ein planschender Fleck. Ich schwimme zu ihm zurück. Er beklagt sich, dass die Flosse drückt. Wieder schlage ich ihm vor, es mit dem anderen Beinschlag zu versuchen. Er tut es eine Weile, dann fällt er in den alten Stil zurück. Ich schwimme wieder vor und wieder zu ihm zurück. André schwimmt zu mir herüber und fragt, ob bei James alles in Ordnung ist. Ich sage ihm, dass James Probleme mit den Flossen hat. André schwimmt zu ihm und fragt ihn, ob sie Flossen tauschen sollen, aber James lehnt dankend ab. Ich bemerke eine Strömung, die zwar schwach ist, aber aufs Meer hinauszieht.
Eine Weile schwimmen wir
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