Bahnen ziehen (German Edition)
Independent-Filme, die ich sehen will (Ein Engel an meiner Tafel, Rosenkranz & Güldenstern, Diva, Letzte Ausfahrt Brooklyn) . Alle paar Seiten ermahne ich mich: »Konzentration Konzentration Konzentration.« »Schwimm einfach!«
Ich erinnere mich kaum an diese Qualifikationsmeisterschaften, aber anhand der letzten Seiten des Notizhefts kann ich mir zusammenreimen, was passiert ist.
Dienstag: Nach dem Morgentraining in Toronto Abfahrt nach Montreal. Kurze Massage um 8.45, Mannschaftstreffen um 9.20.
Mittwoch: Lebensmittel gekauft und bei den Vorläufen zugesehen. Ein paar leichte Bahnen um 12.30, im Hotel rasiert; zurück zum Pool, um die Finals zu sehen.
Donnerstag: 200 m Brust. Enttäuschende 2:47:43 geschwommen, 35. Platz belegt. (Vor vier Jahren war ich elfte.)
Freitag: Leichte Bahnen während der Vorrunde, dann Zeitschriften lesen im Parc Olympique. Habe ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, dass ich ins Heft geklebt habe. Abends Mannschaftsessen bei Pacini.
Samstag: Leichte Bahnen während der Vorrunde. Eine Orange gegessen. Ins Kino gegangen ( Lethal Weapon 3 ). Am Abend hat es meine Teamkameradin Marianne mit 200 m Lagen in die olympische Mannschaft geschafft.
Sonntag: 100 m Brust. Enttäuschende 1:17:52, 36. Platz. (Vor vier Jahren war ich dreizehnte.)
Am Sonntagabend stand die olympische Mannschaft fest. Meine Teamkameraden Marianne, Gary und Marcel hatten es geschafft; Beth, Kevin und Mojca nicht. Beth hatte die Qualifikationszeit um eine Hundertstelsekunde verpasst. Ein Hundertstel. Ich erinnere mich an ihr Gesicht auf dem Podest, versteinert, stoisch. Es war ein Bild der Trauer. Kevin erreichte die Qualifikationszeit, doch er wurde Dritter, und nur die ersten beiden wurden aufgenommen.
Ich zog mich um und ließ mich im Team-Van vom Hotel zur U -Bahn bringen, dann nahm ich die U -Bahn zu einem Pub, wo ich Pommes aß. Ich sprach mit Kevin, der untröstlich war, dann tanzte ich mit ihm zu »Let It Be«. Beth, Kevin, Andrew und ich nahmen ein Taxi zurück zum Hotel, wo sich Kevin ausgeschlossen hatte und runter in mein Zimmer kam. Wir gingen zu Fuß zu McDonalds. Es nieselte. Durchs Fenster von Dunkin’ Donuts sahen wir Gary und Mojca.
Als ich wieder in meinem Zimmer war, setzte ich mich in den Sessel, die Füße auf der Fensterbank, und hörte auf dem Walkman in Endlosschleife »One« von U 2. Ich sah zu, wie die Sonne aufging, sah einen Teamkameraden, der mit einem blauen Rucksack über den Parkplatz ging. Er stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Ich schlief ein. Als ich aufwachte, packte ich meine Sachen, nahm das Obst und die Erdnussbutter mit und überließ die Müsliriegel meiner Zimmergenossin Shelley.
Auf der letzten Seite des Notizhefts klebt ein Bonbonpapier der Bar-B Barn auf der Rue Guy. Zwischen zwei Seiten gepresst ist ein trockener brauner Zweig, der vielleicht mal Flieder war.
Im Herbst, zurück in Montreal, habe ich nicht vor, mit dem Schwimmen weiterzumachen, doch als der Cheftrainer der McGill bei einem Pilzomelette um mich wirbt, schließe ich mich dem Team unter einer Bedingung an, nämlich der, dass ich meinen eigenen Trainingsplan aufstellen kann. Ich strenge mich nicht an, und zum ersten Mal in meiner Schwimmkarriere macht es mir während dieser kurzen Monate richtig Spaß. Das Aufnahmeritual der Erstsemester (mit einem Marshmallow unter jeder Achsel und einem zwischen den Knien zweimal um den Sportplatz – in Badeanzug und Badekappe, Schwimmbrille und Turnschuhen) breche ich mittendrin ab und kann ungestraft gehen. Das Team hat Zugang zu einem privaten Fitnessstudio, wo ich, nach dem Krafttraining zu MTV , glückliche Stunden im duftenden Dampfbad verbringe. Bei Varsity-Wettkämpfen teile ich das Zimmer mit meinen Freundinnen Andrea, der Medaillengewinnerin von 1988 und Kapitänin der Olympiamannschaft 1992, die ihre fantastischen Erfolge nicht zur Schau trägt und ein lautes, schmutziges Lachen hat, und Ojistoh, der Team-Schönheit, einer indianisch-kanadischen Medizinstudentin, die Baked Beans kalt aus der Dose isst und Salatgurken wie Bananen.
2100 Rue Lambert-Closse ist ein breites dreistöckiges Backsteingebäude mit einem flachen weißen Portikus voller Risse. Die Eingangshalle und die Flure sind in einem hässlichen glänzenden Lavendelton gestrichen und verbreiten warmen Kümmelgeruch. Unsere Wohnung ist eng, mit hohen Decken und verzogenen Dielen. Von meinem Zimmer am Ende des Flurs aus sehe ich auf den Gehweg vor dem Haus. Chris hat das Zimmerdaneben,
Weitere Kostenlose Bücher