Bahnen ziehen (German Edition)
routinemäßigen Aktzeichnens ist mein Vorrat an Spaghetti und Granny-Smith-Äpfeln geschrumpft. Ich muss anfangen, Kontakte zu knüpfen.
Ich freunde mich mit ein paar Leuten an, die im selben Haus wohnen, und sie überzeugen mich, mir Inlineskates zu besorgen. Sie bringen mir in den leeren Stunden am frühen Morgen das Skaten bei. Mit dem Auto fahren wir zur Wayne State University, parken, legen eine R . E . M .-Kassette ein, öffnen die Wagentüren und skaten immer wieder um den asphaltierten Campus, die verlassene Woodward Avenue und die East Kirby Street hinauf und herunter. Wenn ich vom Schwimmen rede, sehen mich meine neuen Freunde verständnislos an, also reden wir über Kunst.
Im September fangen Chris und ich an der McGill University in Montreal an. Wir ziehen in eine Wohnung in der 2100 Rue Lambert-Closse.
Nach der Hälfte des Semesters beschließen unsere Mitbewohnerinnen Amy und Lisa, die die Wohnung gefunden haben, einen großen Wandschrank zu einem weiteren Zimmer umzubauen und per Inserat nach einem »schwulen-und-lesben-freundlichen« Mitbewohner zu suchen. Chris findet, dass sie Heterosexuelle damit diskriminieren, doch Amy und Lisa erklären, dass die Betonung auf freundlich liege, nicht auf schwul oder lesbisch. Ich mache den Vorschlag, dass wir alle in eine schönere und günstigere Wohnung ziehen. Wir besichtigen eine Wohnung, an die ich heute noch denken muss: Vormals von einem Professor der McGill University bewohnt, hatte sie verwinkelte Flure, alte Dielen und die hohen Fenster, die für Montreal typisch sind. Im Zimmer waren vom Boden bis zur Decke Regale eingebaut, mit denen die Wände dreißig Zentimeterdicker waren. Ich träumte davon, die Regale mit meinen geliebten Büchern zu füllen; ich bildete mir ein, dass das einsiedlerische, konzentrierte Wesen des Professors in die Räume eingesickert war; ich glaubte, wenn ich dort leben könnte, würde ich ein intelligenterer Mensch.
Wir nehmen die Wohnung nicht. Sumaya – sowohl freundlich als auch lesbisch – zieht ein und schläft auf einer pfirsichfarbenen Steppdecke auf dem Boden des Einbauschranks. Sie lässt große Töpfe mit scharfem Dal auf dem Herd köcheln. Morgens, wenn meine Mitbewohner noch schlafen, trage ich leise mein grünes Mountainbike durch den Flur auf die Treppe und hinaus an die frische Luft.
Ich radele von der Lambert-Closse zum Schwimmbad des Cégep du Vieux Montréal, um mit dem McGill-Team zu trainieren. Die Nach-Olympia-Saison ist unaufgeregt, der langsame Beginn eines weiteren Vier-Jahres-Zyklus. Anfang des Jahres war ich in Montreal, um an den Qualifikationsmeisterschaften 1992 teilzunehmen, die in der Piscine Olympique stattfanden.
Ich habe noch einen Zettel, den Byron im Februar 1992 an uns verteilt hat, eine Fotokopie auf kanariengelbem Papier. In die obere rechte Ecke hatte er eine Flagge mit den olympischen Ringen gemalt. Auf dem Zettel steht:
TORONTO-SCHWIMMER: QUALIFIKATIONSMEISTERSCHAFTEN und OLYMPISCHE SPIELE , WIR KOMMEN ! !
Wir befinden uns in der letzten Phase unserer 12-monatigen Vorbereitung und liegen gut in unserem Zeitplan: Grundausdauer im Sommer; Ausdauer und Kraft im Herbst; Ausdauersteigerung über Weihnachten; Reduktion des Krafttrainings im Winter, dafür Fokus auf Wettkampftraining. Die Ergebnisse zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und zur letzten Phase übergehen können: Temposteigerung bis zu den Trials.
ALSO ... PACKEN WIR’S AN !!
Der Plan ist ganz einfach. Harte Arbeit. Viel harte Arbeit. Totale Konzentration und totale Opferbereitschaft. Keine Ausreden. Ihr KÖNNT es.
Der Zettel steckt in einem roten Notizheft, zusammen mit Trainingsplänen und Wettkampfprogrammen. Auf einem anderen Zettel steht in meiner Handschrift: »Dinge, die mir helfen, meine Ziele zu erreichen: KRAFT: Krafttraining, Knie-/Beinarbeit; GESUNDHEIT: viel Schlaf, Ausruhen; INTENSITÄT: Konzentration, müde trainieren; GEWICHT: ideal 55 kg.«
Im ganzen Notizheft stehen Listen mit Lebensmitteln, die ich zu mir genommen habe, und meinem Gewicht. Auf einer Seite habe ich die Zeit aufgeschrieben, die ich auf der 50-Meter-Bahn bei 100 Meter Brust erreichen will, 1:10:00, einhundertzehn Mal. Auf der gegenüberliegenden Seite steht, wie sehr ich bestimmte Team-Mitglieder hasse. Das Heft ist voll mit kitschigen lila Schwärmereien; Listen von Malgeräten und Backzutaten; Notizen auf der Suche nach einem Atelierplatz, Konzerte, die ich besuchen will (Rollins Band, Luka Bloom, Cowboy Junkies),
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