Bahnen ziehen (German Edition)
wo er die Zeitschrift Details liest und Soundgarden und Nirvana hört. Er macht mit seinem Freund Vernon Musik; sie haben gerade eine Band gegründet. Amys Freund Dave bringt mir im Wohnzimmer ein paar Akkorde der Band Fugazi auf seiner Gitarre bei.
Während eines Besuchs bei Chris bricht Vernon aus heiterem Himmel vor dem Haus zusammen. Ich bin gerade in Toronto, als es passiert, und bleibe bis zur Beerdigung dort. Als ich zurück nach Montreal komme, stehe ich am Fenster und sehe hinaus auf den Weg und frage mich, was Chris durchgemacht hat.
Mein Kurs über die Geschichte der Fotografie an der McGill findet in einem abgedunkelten Raum statt. Als der Professor seine Dias zeigt, bin ich tief berührt von den feinen blassen Gesichtern auf den Daguerreotypien; von William Henry Fox Talbots grobkörniger nature morte und Julia Margaret Camerons Bildern von Mädchen und Frauen, Profile in Sepia, nachdenklich und stark. Einhundert Geistergeschichten in Schwarzweiß flackern hintereinander in der Dunkelheit auf.
Die Stunden zwischen den Kursen und dem Training verbringe ich in der McGill Library, wo ich mir die Grafikdesign-Jahrbücher der 1970er ansehe und alles über Pentagram und die Push Pin Studios lese – eine coole, bonbonfarbene Version Amerikas, kultiviert und illustriert.
Diese acht Monate sind wie ein nach Hummus und Dampfbad duftender Kokon, in dem sich mein tatsächliches Alter und mein Schwimmalter verbinden. Als wäre Montreal ein Atoll, dass die Schwimmbäder von Etobicoke und das offene Meervor New York verbindet. Ich schwimme entspannt – wenig motiviert, weit weg von Erwartungen – durch Doppelwettkämpfe gegen Dalhousie und Yale, durch lateinische Deklinationen, Harper’s Bazaar -Ausgaben der Fabien-Baron-Ära, Leonard Cohens trockenen frankophilen Humor und Paul Westerbergs strubbelige Sehnsucht auf das Ende meiner Karriere als Leistungsschwimmerin zu.
Chris lebt immer noch in Montreal, hat inzwischen Frau und Kind und eine Oscar-nominierte Produktionsfirma, und steht bei der Veranstaltung hinten in der Buchhandlung. Wir gehen im Anschluss ein Bier trinken, und er erzählt mir, wie er irgendwann mit dem Fahrrad an dem Haus auf der Lambert-Closse vorbeifuhr, das inzwischen verbarrikadiert und verlassen ist. Er sagt, es sei, als habe jemand die Zeit angehalten, genau in dem Moment, als wir alle weiterzogen. Ich nach Brooklyn, Chris nach Plateau, Amy nach Toronto, Lisa an die Concordia University. Er sagt, es sei das Gegenteil vom Anblick eines alten Hauses mit einer neuen Familie, voller neuer, unvertrauter Kleinigkeiten, aber immer noch warm, sauber und lebendig.
»So viel ist dort passiert«, sage ich.
»Ja, so viel ist in der Eingangshalle passiert.« Er nickt, dann wiederholt er: »So viel ist in der Eingangshalle passiert.«
Es ist laut in der Bar, und ich habe Chris seit Jahren nicht gesehen, doch die Frau, die bei uns am Tisch sitzt, wechselt das Thema und redet plötzlich von Halloween-Kostümen, und dann will der andere Freund, mit dem ich da bin, gehen.
T RAINER
Ich träume mindestens dreimal die Woche vom Schwimmen. In diesen Träumen geht es immer um einen Wettkampf, und immer sieht jemand zu, gewöhnlich ein Mann. Mein Leben lang habe ich mich an dieser Figur orientiert – dem Trainer. Und irgendwie ist immer einer da gewesen, irgendwie scheine ich immer eine Version von ihm in den Männern zu finden, mit denen ich arbeite, in meinen Chefs; ich scheine mich immer auf jemanden zu verlassen, der mich zu Höchstleistungen antreibt.
Wahrscheinlich fing es mit meinem Vater an, einem Freidenker, der versuchte, normale Kindheitskonflikte kreativ zu lösen. Als ich mich mit sechs Jahren weigerte, Rinderzunge zu probieren, benutzte er es als Lehrstück in Sachen Handel – er fragte mich, wie viel es mir wert sei, nicht kosten zu müssen. Verzweifelt erklärte ich, es sei mir fünf Dollar wert, meine gesamten Ersparnisse aus Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken. Er hielt es für fair, und der Handel wurde gemacht.
Obwohl wir eine katholische Schule besuchten, bestand mein Vater darauf, dass wir erst getauft wurden, wenn wir alt genug waren, die Entscheidung selbst zu treffen. So hatte ich mindestens sieben von acht Jahren an der katholischen Schule das Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein. Ich erinnere mich daran, wie der Rektor unserer Schule sagte, dass nur diejenigen, die getauft waren, in den Himmel kämen; den anderen wünschte er »viel Glück«.
Weniger befreiend war die
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