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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leanne Shapton
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Einstellung meines Vaters zu körperlicher Züchtigung. Einmal dachte er, es sei eine wirksame Disziplinarmaßnahme für unsere kindlichen Verstöße, Derek und mich eine halbe Stunde lang auf einem Rosshaarsessel in einer Ecke des dunklen Kellers sitzen zu lassen. Als ihm klar wurde, dass er uns damit nur Todesangst einjagte, brach er das Experiment an. Er ist seitdem voller Reue, aber ich kann bis heute nicht ohne Licht schlafen.
    In Folge seiner Methoden und der langen Briefe, die er mir über die Bedeutung von Ehrlichkeit, Fleiß und des Nichtrauchens schrieb, wurde ich ein vernünftiger Mensch. Ich lernte, brav zu sein.
    Als ich zwölf war, bemerkte einer meiner Trainer, dass ich ein »Gefühl« für das Wasser habe. Ich sonnte mich einen Moment in der Aufmerksamkeit, doch ich verstand auch genau, was er meinte. Ich habe es immer noch. Es ist ein Wissen über den Raum unter Wasser, ein Gespür, wo genau mein Körper ist und was er bewirkt, das animalische Erfühlen eines anderen Elements – wie das zitternde Schaudern einer Katze, wenn man ihren Rücken berührt. Auf dem Trockenen rempele ich ständig gegen Dinge, schlage mir Zehen an, verfehle Stühle. In der Horizontalen fühle ich mich wohler, die Füße oben, die Beine über Armlehnen gelegt, den Kopf seitlich auf dem Ellbogen.
    Wie man zeichnet, verstehe ich erst richtig, als mir ein Lehrer erklärt: »Stell dir vor, du fährst mit der Hand über die Oberfläche dessen, was du zeichnest.«
    Zu einem Aktzeichenkurs, den ich 1993 am Pratt Institute in Brooklyn belege, gehört ein Ausflug an die Columbia Medical School, wo wir Leichen zeichnen sollen. Während auf einem Tisch ein lebendes Modell posiert, arrangiert unser Lehrer eine gehäutete, doch ansonsten unversehrte Leiche in der gleichen Position. Er lädt uns ein, sie zu berühren. Mir kommt der Gedanke, dass selbst die intimste Beziehung mit einem anderen Menschen diese Art von Erforschung nicht zulässt. Ich überstrecke das Knie, dann schiebe ich die Finger hinter die Kniescheibe und folge den Muskeln, die sich geschmeidig ineinanderflechten. Sie fühlen sich an wie Seidenschnüre und riechen wie feuchte Pappe.
    Am Ende des Raums ist der Sektionssaal. Irgendwie lande ich allein dort, bevor der Rest der Klasse nachkommt. Auf zwei Reihen von Stahltischen liegen wie riesige Bananen Leichen unter gelben Abdeckplanen. Der Geruch nach feuchter Pappe hängt schwer in der Luft. Ich wende mich ab und starre die Spüle an, bis die anderen da sind.
    Mitten im Raum steht eine Wanne voller Köpfe, in einer anderen Wanne liegt eine sezierte Frauenleiche, die so präpariert ist, dass wir ihr wie bei einem Pop-up-Buch den Brustkorb öffnen können, um uns die einzelnen Organe anzusehen. Ich stöbere in ihrem Unterleib herum, und mein Lehrer erklärt mir, dass der geschmeidige kleine Geldbeutel, den ich in der Hand halte, ein Uterus ist. Später am Abend habe ich Appetit auf Hühnchen.
    Als ich vierzehn war, schenkte mir mein Vater ein Buch mit dem Titel Revealing Illustrations , das er bei Crown Assets gefunden hatte. Es ist eine Werkschau des amerikanischen Illustrators James McMullan. Ich war begeistert, bat um einen Kasten guter Wasserfarben und verbrachte Tage damit, McMullans Illustrationen abzumalen.
    Am Pratt Institute schlage ich eines Abends aus Langeweile James McMullan im Telefonbuch von Manhattan nach. Zu meiner Überraschung finde ich eine Nummer mit einer Adresse auf der Park Avenue. Ich rufe an. Ein Mann ist am Apparat. Ich frage ihn, ob er der Illustrator James McMullan ist, und er antwortet: ja. Dann frage ich, ob ich ihm mein Portfolio zeigen dürfe. Er sagt, er sei mitten im Umzug, schlägt aber vor, dass ich mich in drei Wochen, wenn er fertig ist, noch einmal melde.
    Drei Wochen später führt mich McMullans Assistentin in ein helles Atelier und zeigt auf einen Korbsessel, wo ich warten soll, bis Jim sein Telefonat beendet hat. Ich erkenne den Stuhl von einer seiner Illustrationen wieder, die ich mühevoll mit Wasserfarben aus seinem Buch abgemalt habe. (Seine Zeichnung war schwungvoll, selbstbewusst und traf genau die Stimmung eines geliebten Korbsessels im Sonnenschein. Meine Zeichnung sah aus, als hätte sie eine Krabbe mit den Scheren gemalt.)
    Als er zu Ende telefoniert hat, blättert Jim durch mein Portfolio und erklärt mir, dass ich überhaupt nicht zeichnen könne, dass alles, was ich produziert habe, Tricks und Manierismus seien. Er sieht mich an und fragt mich ganz direkt: »Was

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