Bahners, Patrick
esoterischen
Geschichtstheologie, die den wahren Imam in der Verborgenheit ansiedelte. Aus
der Situation einer im Geheimnis verbundenen verfolgten Minderheit erklärt
Goldziher, dass die Verstellung den Schiiten nicht wie den Sunniten als Konzession
an die Schwachen gegolten habe, sondern als «unerlässliche Pflicht, die niemand
aus Übereifer unterlassen darf». Allerdings sei das Leben in der Verstellung
als schwere Last empfunden worden. «Der innere Kampf, den der durch dies
Takijja-Verhalten hervorgerufene falsche Schein dem Gemüt der ehrlichen
Gläubigen verursacht, wird dem Religionskrieg gleichgestellt.» Es blieb bei der
Bindung an die Lebensgefahr; die Täuschung hatte den Zweck, die Gemeinschaft
der unerkannt lebenden Gläubigen zu schützen. Als ketzerische Übertreibung
ordnet Goldziher von der sunnitischen Propaganda überlieferte Meinungen ein,
dass auch zum privaten Vorteil in Vermögens-, blut- und eherechtlichen
Angelegenheiten falsch Zeugnis abgelegt werden dürfe.
Die antijesuitische Polemik der liberalen Kulturkämpfer
sah darüber hinweg, dass es unter den Moraltheologen des Ordens auch Kritiker
der Lehre vom Mentalvorbehalt gegeben hatte. Gleichwohl wurde der Kampf bis in
die Konversationslexika hinein philologisch geführt, mit Belegstellen aus den
Lehrbüchern der Moraltheologie. Die Islamkritiker bleiben entsprechende Belege
für ihre These einer gesamtislamischen, entgrenzenden Rezeption der Doktrin der
Taqiya schuldig. Bassam Tibi hat in mehreren Publikationen behauptet, sunnitische
Islamisten hätten von den Schiiten die Praxis der Taqiya gelernt, ohne
einschlägige zeitgenössische Rechtsautoritäten zu zitieren. Dabei liegen die
Schwierigkeiten der Anwendung selbst der schiitischen Lehre auf
Gesellschaftsverhältnisse ohne Glaubenszwang auf der Hand. In einem
sunnitischen Polizeistaat wie Ägypten mögen heimische Islamisten ähnlicher
Repression ausgesetzt sein wie früher die schiitischen Gegner der sunnitischen
Kalifen. Aber im Westen genießen Islamisten Glaubensfreiheit. Es wäre also zu
erklären und zu dokumentieren, ob heutige Lehrer der Taqiya die seit der Urzeit
festgehaltene Bedingung der äußersten Bedrängnis aufgegeben haben oder ob sie
den Frommen einreden, ihr bloßes Dasein in indifferenter Umgebung sei für sie
quasi lebensgefährlich. Tibi bezieht sich auf konspirative Praktiken
fanatischer Feinde des säkularen Staates, die im Horizont der Täter
wahrscheinlich gar keine spezifische theologische Begründung brauchen - und
jedenfalls samt ihren etwaigen sektiererischen Gründen bei den allermeisten
Muslimen auf Ablehnung stoßen. Warum spricht Tibi trotzdem von Taqiya? Mit der
Legende vom gängigen Lehrstück der gemeinmuslimischen Moraltheologie lassen
sich alle Muslime unter Verdacht stellen. Der Befund, dass die meisten Muslime
in westlichen Staaten friedlich leben und auf Anpassung bedacht sind, wird
umgebogen zum Indiz des Gegenteils. Im islamkritischen Internet werden alle
Äußerungen von Muslimen, die keine Aufrufe zum Dschihad sind, als Taqiya
etikettiert.
Das wirksamste Gift
Keine andere Parole der Islamkritik hat das alltägliche
Zusammenleben so nachhaltig vergiftet. Neda Kelek schrieb 2007 in einem Zeitungsaufsatz
zum Kölner Moscheebau: «Die Zahl der Sekten und konkurrierenden
Glaubensrichtungen des Islam ist kaum zu überschauen, doch wird vorgegeben,
man trete gemeinsam auf und es wird die taqiyya, die Kunst
der Verstellung und des Verschweigens der wahren Haltung gegenüber
praktiziert.» Wenn diese ohne jede Einschränkung geäußerte
Warnung ihre guten Gründe hat, dann ist sie nicht nur im Umgang mit dem Kölner
Bauherrn, der Ditib, zu beachten. Die Verlässlichkeit dieses Verbandes müsste
eigentlich im Staatsinteresse der Türkei liegen. Wenn aber alle Erfahrungen,
die deutsche Kommunen seit vielen Jahren mit der Ditib gemacht haben, wirklich
nicht zählen sollen, dann gilt erst recht für jeden kleinen Moscheebauverein,
dass man auf Zusagen muslimischer Vertragspartner im Zweifel nichts geben kann.
Und genau mit dieser Verweigerung des Vertrauensminimums unter Mitbürgern sehen
sich überall in Deutschland Lokalpolitiker und Kirchenvertreter konfrontiert,
die in Bürgerversammlungen für das Recht der Muslime auf Moscheebauten eintreten.
Wenn ihnen entgegengehalten wird, man wisse nicht, ob der Imam den freundlichen
Demokraten nicht nur spiele, sprechen daraus keine schlechten Erfahrungen mit
Muslimen. Vielmehr ist
Weitere Kostenlose Bücher