Bahners, Patrick
«Infidel» gegeben, weil sie für das Recht der Muslime
kämpft, ihrem Glauben abzuschwören. Das korrespondierende Recht der
Ungläubigen, sich zum Islam zu bekehren, will sie suspendieren - für die Zeit,
bis der Islam unschädlich gemacht ist: «Man muss damit anfangen, dass man die
Ausbreitung der Ideologie aufhält. Zur Zeit gibt es eingeborene Bürger des
Westens, die zum Islam konvertieren, und sie sind häufig die größten
Fanatiker.» Auch die Freiheit von Forschung und Lehre und die
Versammlungsfreiheit möchte Hirsi Ali für die Dauer des Krieges eingeschränkt
sehen. Das öffentliche Verbrennen von Symbolen - eine Form des Protests, die
in den Vereinigten Staaten selbst bei Verwendung der Landesflagge den Schutz
der Verfassung genießt - soll der Westen verbieten, um mit dieser Antwort auf
die Provokationen seinerseits ein Zeichen zu setzen. «Man blickt dem Feind ins
Auge, lässt seine Muskeln spielen und gibt ihm eine letzte Warnung: Wir nehmen
das nicht mehr hin.»
Der Sphäre der symbolischen Selbstdarstellung wächst auf
dieser Linie geradezu kriegsentscheidende Bedeutung zu. Am Tragen oder Ablegen
von Kleidungsstücken, am Dulden oder Verbieten architektonischer Gesten zeigt
sich der Siegeswille der Kriegsparteien. Der Bürgerkrieg, dessen Ausbruch laut
Hirsi Ali längst hinter uns liegt, ist ein Partisanenkrieg mit umgekehrtem
Vorzeichen: Die Muslime sind in den Augen der Islamkritik nicht einfach im
Westen anwesend, sondern streben in die Sichtbarkeit, okkupieren den
öffentlichen Raum. In kleinen Schritten kommen sie voran, aber auf breiter
Front, und eben das Unaufdringliche des Vormarschs im Schutz allgemein akzeptierter
Vorstellungen vom Radius der privaten Lebensgestaltung macht drakonische
Gegenmaßnahmen erforderlich. Muslimischen Verhüllungsvorschriften antwortet der
Enthüllungsbefehl der Islamkritik. Die Kopftuchpflicht ist in Staaten säkularen
Rechts eine Sache der persönlichen Entscheidung. An der Freiwilligkeit kann man
zweifeln, aber dieser Zweifel bleibt Vermutung im Einzelfall oder in einer
begrenzten Menge von Fällen. Ein Kopftuchverbot kommt dagegen von vornherein
nur dort zum Tragen, wo es mit Zwang durchgesetzt werden muss. Diese
Illiberalität ihrer Maßregeln nimmt die Islamkritik in Kauf, ja, sie mag ihr
als Zeichen der Dringlichkeit ihres Anliegens sogar willkommen sein. Gerade im
nachbarschaftlichen Alltag schlagen die Islamkritiker einen aggressiven Ton an,
dem man ablesen soll, dass sie in Notwehr tätig werden. So mobilisierte Ralph
Giordano den Unmut gegen den Kölner Moscheebau, indem er im Fernsehstudio der
Lokalzeitung sagte: «Auf dem Wege hierher hatte ich einen Anblick, der meine
Ästhetik beschädigt und gestört hat: eine von oben bis unten verhüllte Frau,
ein menschlicher Pinguin.»
Andere Bürger stört der Anblick einer von oben bis unten
unverhüllten Frau, auch wenn es sich um ein Werbeplakat oder ein Kunstwerk
handelt. Im Gespräch mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» beklagte sich
Ayaan Hirsi Ali 2006 darüber, dass in holländischen Diskussionen über die
Grenzen des Schicklichen muslimische Vertreter immer für die Entfernung von
Aktdarstellungen einträten. «Vor zehn Jahren wären solche Debatten in Holland
noch unvorstellbar gewesen.» Sie nannte keine Beispiele für Kunstwerke, die
nach Eingaben muslimischer Sittlichkeitswächter im Depot verschwunden wären.
Die bloße Tatsache, dass muslimische Repräsentanten ihre Ansicht äußern
konnten, diente ihr zur Illustration der «Untergrabung der freiheitlichen
Gesellschaft», die «ein Prozess in mehreren Stufen» sei. Kam es also auf die
Ergebnisse der kunstpolitischen Debatten an Ort und Stelle gar nicht an? Ist
die Zurschaustellung von Nacktheit ein aufklärerischer Wert an sich, der schon
befleckt wird, wenn ein Betrachter sein Unbehagen nicht verbirgt? In der Zeit,
als sich in Holland angeblich niemand vorstellen konnte, die Normalität der öffentlichen
Entblößung von Frauenkörpern zu einem politischen Thema zu machen, kämpfte
Alice Schwarzer in Deutschland unbeirrbar gegen die Pornographie und gegen die
pornographische Ästhetik in der Hochkultur - ohne bei ihren Protestaktionen in
ein Pinguinkostüm zu schlüpfen.
Schleichwege der Scharia
Dass Moralvorstellungen aus verschiedenen Zeiten und
Welten aufeinandertreffen, tut der Phantasie der freiheitlichen Gesellschaft
gut: Über das Anstößige muss gesprochen werden. Kunstpolitik hat sich in der
Demokratie mit dem
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