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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Panik-Macher
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ist Enttäuschung programmiert.
    Als der Demographieforscher Reiner Klingholz Anfang 2009
eine Untersuchung vorstellte, die Deutschtürken die größten Bildungsrückstände
im Vergleich der Einwanderergruppen bescheinigte, erklärte der
Integrationsbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, der Christdemokrat Thomas
Kufen, ihn überrasche der Befund nicht. Türken blieben häufig unter sich,
bildeten Parallelgesellschaften. Niemandem, der «wachen Auges» durch
nordrhein-westfälische Städte gehe, könne das verborgen bleiben. Der
Augenschein wurde von Kufen in tendenziöser Weise interpretiert. Aus der mutmaßlichen
Tatsache immer stärker getrennter Wohnverhältnisse schloss er auf den Willen
zur Absonderung. Die Türken bleiben unter sich. Ergänze: Sie wollen unter sich
bleiben. Repräsentative Befragungen der Eingewanderten haben aber ergeben,
dass die große Mehrheit der Türken keineswegs das Wohnen in hauptsächlich von
Ausländern bewohnten Bezirken vorzieht. Wenn junge Türken nach den Nachbarn
ihrer Wahl gefragt werden, setzen sie die Deutschen an die erste Stelle. Junge
Deutsche umgekehrt wollen mit den Türken so wenig wie möglich zu tun haben.
Aber wozu sozialwissenschaftliche Untersuchungen, wenn ein Spaziergang durch
Köln-Mülheim oder Duisburg-Marxloh genügt, um zu sehen, was bei der
Integration im Argen liegt? Mit arroganter Nonchalance lassen sich Politiker
zu einem Problem ein, das die Politik seit vier Jahrzehnten kennt. 1973, im
Geburtsjahr von Thomas Kufen, war im «Spiegel» die Titelgeschichte «Gettos in
Deutschland: Eine Million Türken» erschienen.
    Der Artikel unter der Überschrift «Die Türken kommen -
Rette sich, wer kann» begann mit einem Ortstermin: «Die Kneipe am Kottbusser
Tor war mal echt Kreuzberg, Ecklage, Berliner Kindl, Buletten, Sparverein im
Hinterzimmer. Heute rotiert am Büffet der Hammelspieß senkrecht, der Kaffee
ist süß und dickflüssig, aus der Musikbox leiert orientalischer Singsang.» Und
die Kneipe hatte jetzt auch einen neuen Namen: «Hisar», deutsch «Festung». Eine
Sternstunde investigativer Drohkulissenschieberei! Die demographische Gefahr
blieb nicht unbemerkt: «Fast alle bleiben im Lande und mehren sich redlich.»
Im Kreuzberger Urban-Krankenhaus waren schon ein Drittel der Neugeborenen
«Kleinst-Türken». Dass die «Gastarbeiter» wirklich nur zu Gast seien und in
ihre Heimatländer zurückkehren würden, bezeichneten die Autoren als «Legende»,
als «amtlich immer noch genährte Fiktion». Der Buschkowsky von damals hieß
Günther Abendroth, Bezirksbürgermeister von Kreuzberg. «Wenn das so weitergeht»,
zitierte ihn der «Spiegel», «ersaufen wir einfach.» Die Zusammensetzung der
Wohnbevölkerung änderte sich quasi naturgesetzlich: «Es gehört zur
Eigendynamik des Getto-Wuchses, daß ungestümer Zuzug von Ausländern den
Einheimischen das angestammte Quartier verleidet, der dadurch ausgelöste Auszug
der Deutschen aber wiederum Platz für die Fremden schafft - was nur den Exodus
der Einheimischen weiter beschleunigt.» Die «Türkenflüchtigen» beanstandeten
nach Angaben der Behörden Lärm, Küchengerüche und «die fremden Bräuche auf dem
Etagenklo». Folge: ein Ausländeranteil in den Schulklassen der «Slumviertel»
von bis zu fünfzig Prozent. Ein türkischer Lehrer in Frankfurt warnte, man
ziehe Analphabeten in zwei Sprachen heran.
    Absatz für Absatz könnte unter Korrektur der einen oder
anderen Zahl in eine Integrations-Story aus der Gegenwart übernommen werden,
auch der Hinweis, bei der Deutung der Verbrechensstatistik sei zu beachten,
dass das Bild der Deutschen «durch zahlenstarke gesetzesfromme Gruppen» wie
«Greise und Besitzbürger» geschönt werde. Der Artikel stellte auch dar, dass
ein unheilvolles Bündnis von Stadtplanern und Spekulanten die Einwandererströme
in die Arbeiterviertel gelenkt hatte: Die Verelendung durch Herunterwohnen war
gewünscht, denn die alten Häuser sollten weichen. An deutlichen Problembeschreibungen
aus berufenem Mund hat es nie gefehlt. Hans-Jochen Vogel hatte als Münchner
Oberbürgermeister festgestellt, dass es «kleine Harlems auch schon bei uns»
gebe. Und das «Rette sich wer kann» der Überschrift war ein Zitat des Leiters
des Kreuzberger Stadtplanungsamtes.
    Wer in Berlin eine Reportage über Parallelgesellschaften
schreiben will, steigt auch heute noch am U-Bahnhof Kottbusser Tor aus. Dabei
sollten die Reporter genauso durch Wilmersdorf oder Zehlendorf gehen. Wie das
mathematische

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