Bahners, Patrick
spüren meinte, aus schmerzlicher
Erfahrung schrieb, so dass die Verzerrungen zum Signum der Authentizität wurden.
«Neda Kelek schreit in ihrem Buch. Sie ist wütend und zornig.» Die Autorin
machte sich zum Organ ihrer Mutter und aller anderen türkischen Frauen, deren
Schreie überhört worden waren. Leidensgeschichte und Wirkungswille, Kalkül und
Passion kamen zusammen: Die Kraft des Buches führte Prantl in seinem
freimütigen Porträt der Verfasserin auf eine heikle Symbiose von Entgrenzung
und Disziplinierung zurück.
Hier schrieb, so las Prantl das Buch, eine Frau, die nicht
anders konnte und doch genau wusste, was sie tat: Den Satz, dass «eine Kultur,
die dem einzelnen die Menschenrechte verweigert, nicht demokratiefähig» sei,
gebrauchte Neda Kelek laut Prantl als Waffe. Sie habe damit zugeschlagen, legte
der frühere Staatsanwalt dar, im Affekt, genauer gesagt «im sthenischen
Affekt». Die Einteilung in sthenische und asthenische Affekte findet sich in
Kants «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht». Kant definiert den Affekt als
«Überraschung durch Empfindung», die das Gemüt die Fassung verlieren lässt. Er
unterscheidet die sthenischen Affekte, die Affekte aus Stärke wie den Zorn, von
den Affekten aus Schwäche, den asthenischen Affekten, wie der Angst. Die
kraftvollen Affekte sind nach Kant «von einer erregenden, dadurch aber oft
auch erschöpfenden Beschaffenheit». Bei Neda Kelek ist Erschöpfung noch nicht
zu bemerken. 2005 wollte Prantl zugunsten der Preisträgerin noch annehmen, «mit
einem solchen Satz» wie dem «von der Integrationsfeindlichkeit der muslimischen
Kultur» bediene Neda Kelek nur «vordergründig die Vorurteile einer
aufgeschreckten deutschen Gesellschaft». Seitdem hat sich die deutsche
Gesellschaft nicht wieder beruhigt, und Neda Kelek scheint es in allen ihren
weiteren Büchern wie in der dichten Folge ihrer Artikel und Reden darauf
angelegt zu haben, die Mehrheit in ihren Vorurteilen über die Türken zu
bestärken.
Prantl hatte sich in jener Feierstunde in der Großen Aula
der Münchner Universität auch als Pädagoge versucht und mit der gebotenen Behutsamkeit
eine mögliche Entwicklungslinie des furiosen religionskritischen Engagements
der Preisträgerin gezogen. Er stellte sich als Katholik vor, der von Zeit zu
Zeit an seiner Kirche leide und daher mit der Islamkritikerin mitleiden könne.
Um «Neda Keleks generalisierende Bedenken über das Zueinanderpassen von Islam
und Demokratie» einordnen zu können, brachte er einen historischen Vergleich
ins Spiel. Die christlichen Kirchen hätten auch erst vor kurzer Zeit ihren
Frieden mit der Demokratie gemacht. Keinem zur Ehre der Altäre erhobenen
Scholastiker sprach Prantl dieses Verdienst zu, was seine eigene Konfession
betraf, sondern einem Lebenden: dem 1930 geborenen ehemaligen
Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Bei der Lektüre der «Fremden
Braut», erzählte Prantl, sei ihm Tilmann Mosers «Gottes Vergiftung»
eingefallen, die Anklagerede des Psychoanalytikers gegen den katholischen Gott
aus dem Jahre 1976. «Heute sagt er von seinem Buch, es komme ihm ein Stückchen
hochmütig vor.» In Neda Keleks Schreibkarriere ist seit 2005 eher eine
Verhärtung eingetreten. Mit ihrem Sendungsbewusstsein zieht sie den Vorwurf des
Hochmuts auf sich, der keineswegs nur in der Moscheetürsteherszene des Umfelds
der Islamverbände gegen sie erhoben wird. Beim dritten oder vierten Buch kann
man eben nicht mehr jede maßlose Formulierung mit einer überraschenden
Zornesaufwallung erklären.
In seinem Bemühen um eine liberale, gleichsam
verfassungskonforme Lesart der Kelekschen Islamkritik ging Prantl so weit, die
Technik der systematischen Übertreibung als literarisches Spiel verstehen zu
wollen, als die Ersetzung des Wahrheitsanspruchs durch den Schockeffekt in
einer Philosophie des Als-ob. Heute wird man nicht mehr auf den Gedanken
kommen, dass die «pauschalisierenden Sätze von Necla Kelek» nur «so tun, als
sei der Islam per se ein großes Integrationshindernis». Sie sagen das so, und
sie sind so gemeint.
Die Islamkritiker sehen sich als schreibende
Eingreiftruppe in der großen westlichen Tradition der Intellektuellen, der
militanten Freunde der Menschheit. Der öffentliche Protest gegen empörendes
Unrecht ist die vornehmste Pflicht des Intellektuellen. Seit jeher hat der
Intellektuelle daher in einer besonders nahen Beziehung zu den Opfern
gestanden. Voltaire erkämpfte den postumen
Weitere Kostenlose Bücher