Bahners, Patrick
Freispruch des Protestanten Jean
Calas, der hingerichtet worden war, weil er angeblich durch die Ermordung
seines Sohnes dessen Konversion zum Katholizismus hatte verhindern wollen.
Zola klagte die Verfolger des Hauptmanns Dreyfus an, der als Jude und als
Elsässer sogleich doppelt verdächtig gewesen war, als ein deutscher Spion
gefunden werden musste. Immer wieder sind aus unterdrückten Klassen und
Völkern intellektuelle Vorkämpfer der allgemeinen Gerechtigkeit hervorgegangen.
Ungewöhnlich ist, dass bei Islamkritikerinnen wie Ayaan Hirsi Ali die eigenen
Erlebnisse zum wichtigsten Beweis der Anklage werden. Der Opferstatus
garantiert die Wahrheit der Kritik. Die Kritik der Kritik steht von vornherein
im Verdacht der Respektlosigkeit. Der Laudator Prantl klammerte seine
politischen Bedenken gegen die Programmatik von «Die fremde Braut» ein und
fand den Grund der Preiswürdigkeit des Buches in der Einheit von Leben und
Werk: «Neda Kelek rechnet ab mit dem Islam, wie sie ihn erlebt und erlitten
hat.»
Eine Kindheit in Istanbul
Inwiefern hat Neda Kelek den Islam erlitten? Ihre Eltern
waren nach ihrer eigenen Darstellung schon in der anatolischen Welt, in der sie
aufgewachsen waren, keine strenggläubigen Muslime gewesen. In der
tscherkessischen Minderheit der Türkei ist ein liberales Verständnis des Islam
verbreitet. Kemal Atatürk, der Gründer der türkischen Republik, war das Idol
des Vaters, und um ein Leben im Geiste Atatürks führen zu können, zog Duran
Kelek mit seiner Frau nach Istanbul. In den Erinnerungsbildern aus Neda Keleks
Kindheit in Istanbul ist die Atmosphäre der Freiheit mit Freilichtkinos,
amerikanischer Mode und Sonntagen am Strand ein Resultat der Reformation
Atatürks, der Verbannung des Islam aus der Öffentlichkeit. «Meine Mutter hat
nie Kopftuch getragen, es wäre ihr auch im Traum nicht eingefallen und damals
ohnehin in Istanbul unmöglich gewesen. Keine Frau, die auf sich hielt, hätte
ein Kopftuch umgebunden.» Eine Frau, die auf sich hält, trägt kein Kopftuch:
Dieser Gedanke steht unausgesprochen noch immer hinter Neda Keleks Position in
der Kopftuchdebatte. Die Frage nach der Freiwilligkeit, mit der sie häufig von
Interviewern konfrontiert wird, ist insofern falsch gestellt. Freiheit ist für
Neda Kelek eine Sache der sozialen Evidenz, keine unter Gleichberechtigten gebotene
Zuschreibung. Eine Frau, die sich verschleiert, ohne dazu gezwungen zu sein,
lässt es an Selbstachtung fehlen und wird mit Herablassung gestraft.
Die Mutter sorgte in Neda Keleks Kindheit dafür, dass im
Ramadan gefastet wurde. Am Zuckerfest zum Abschluss des Ramadan ging der Vater
ausnahmsweise in die Moschee. Aber dieses Feiern islamischer Feste vergleicht
Neda Kelek mit der Konvention derjenigen Christen, die nur zu Weihnachten noch
in die Kirche gehen, weil das zur «gesellschaftlichen Kultur» gehört. Ihr Vater
verspürte einen so starken Drang nach Westen, dass er schon vor der
Auswanderung nach Deutschland das gemütlichste Ritual dieses Kulturchristentums
übernahm: Zum Jahreswechsel stellte er einen Plastikbaum mit elektrischen
Kerzen auf. Von Weihnachten erzählte er den Kindern allerdings nichts; es war
ein Silvesterbaum für die «moderne weltoffene Familie». In der Großstadt führte
die Kleinfamilie ein Leben ohne Verwandte und ohne Gott. «Wir hatten die Sitten
und Gebräuche des Landes hinter uns gelassen wie auch seine Religion.» Dank
Atatürk kannten Neda und ihre Geschwister die Koranschule nicht. «Die Kinder
wurden nicht von Imamen unterrichtet und zum Glauben angehalten, sondern von
staatlich ausgebildeten Lehrern in Religionsgeschichte unterwiesen.»
Onkel Alis Wundermacht
1964 folgte der Vater dem Lockruf des westdeutschen
Wirtschaftswunders. Er ließ sich in einer Kleinstadt in der Nähe von Hannover
nieder und holte zwei Jahre später die Familie nach. Die Familienkrise, die
zur Rückkehr des Vaters in die Türkei führen sollte, kündigte sich 1970 an, als
Neda dreizehn Jahre alt war. Ihr Vater verbot ihr die Teilnahme am Sport- und
Schwimmunterricht. Das waren ihre Lieblingsfächer! Ihre Mutter sorgte dafür,
dass sie kaum noch aus dem Haus ging. Keine dieser förmlichen und informellen
Maßnahmen wurde, wenn wir der detailreichen Darstellung in «Die fremde Braut»
folgen, mit dem Willen Allahs, den Geboten des Koran oder den hergebrachten
Erwartungen an ein frommes Leben begründet. Die Eltern beriefen sich auf das,
was «passend» war gemäß der
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