Bahners, Patrick
Ritualität
freie spirituelle Verbundenheit zu Gott ausdrücken», Metes Distanzierung von
allen äußerlich-sozialen Definitionen des Muslim-Seins. Die Gläubigkeit des
Jungen, der den Besuch der höheren Handelsschule anstrebe, erscheine «deutlich
individualisiert und privatisiert», hieß es 2002; gerade diese Verinnerlichung
seiner religiösen Identität habe ihm «subjektive Handlungsspielräume» einer
«bemerkenswerten Liberalität und Reflexionsfähigkeit» aufgeschlossen. So
äußerte er die Auffassung, dass Muslime, die in Deutschland ein Leben nach dem
Buchstaben der Glaubensregeln führen wollten, das Gastrecht verletzten. Man
müsse Deutsche verstehen, die bei den vielen Kopftüchern auf der Straße komisch
guckten. Mete war auch der einzige Gesprächspartner, der einen mit der
Gesprächssituation gegebenen Handlungsspielraum nutzte und die Gegenfrage nach
der religiösen Haltung der Fragenden einbezog. Strenggläubige, sagte er, die
alles täten, was im Koran stehe, würden nach dem Tod sofort ins Paradies
geschickt. «Aber zum Beispiel wir beide, von uns glaube ich nicht, dass wir ins
Paradies kommen.»
Um den aufgeklärten Menschen die angebliche muslimische
Leitnorm des Respekts zu erklären, will Neda Kelek in «Die fremde Braut» die
innere Haltung aus der Gebetshaltung ableiten. «Als Muslim unterwirft man
sich, den Älteren, so wie man sich - jeden Tag fünfmal, auf
den Knien gewandt, mit dem Gesicht auf dem Boden - Gott unterwirft.» Die
Autorin unterlässt es, die Leser ihres zweiten Buches darüber zu informieren,
dass sich aus der im ersten Buch vorgestellten Gruppe von Jugendlichen nur die
Musterschülerin mit dem Karatefimmel dem geistlichen Leibesübungsritual
unterzog. Alle Schüler hatte die Doktorandin nach ihrem Verhältnis zu Deutschen
beziehungsweise zu Christen befragt. Tatsächlich konnte sie Äußerungen des
Tenors zu Protokoll nehmen, den Deutschen fehle es an Stolz und Respekt. Ebenso
wurde aber Bewunderung artikuliert für den freien Lebensstil der deutschen
Mitschüler. Eine Schülerin, die kein Kopftuch trug und ihren Freundinnen
vorhielt, wenn sie schon Kopftuch trügen, müssten sie aber auch beten, malte
sich aus, dass sie auch als Christin hätte aufwachsen können: Dann wäre auch
sie frei erzogen worden, und dann könnte ihr gleichgültig sein, welcher Religion
sie angehörte.
Eine der Grundannahmen der Islamkritik ist, dass die
Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen die gesamte soziale Wahrnehmung
der Muslime regiere. Wie der Schweinekommunismus von George Orwells «Farm der
Tiere» auf die Parole «Vier Beine gut, zwei Beine schlecht!» gegründet ist, so
müsste ein Muslim insgeheim ständig vor sich hinmurmeln:
«Schweinefleischverschmäher gut, Schweinefleischfresser schlecht!» Alle von
Neda Kelek porträtierten Wilhelmsburger Jugendlichen beschreiben sich als
gläubig. Das bedeutet aber nicht, dass sie in ihrer Alltagssprache die
Deutschen in erster Linie als Ungläubige bestimmen - obwohl sie nicht viele
deutsche Mitschüler und kaum deutsche Freunde haben. Für die von Neda Kelek
nach ihrer Wende zur Islamkritik verbreitete Behauptung, das Gruppengefühl der
(frommen) Muslime stelle sich durch Abgrenzung entlang der Linie rein/unrein
her, bietet ihre wissenschaftliche Monographie erst recht keinen Beleg.
Nachdem die Autorin von «Die fremde Braut» Mete und Emil
als gewaltbereite Muttersöhnchen porträtiert hat, skizziert sie ein demographisches
Szenario, das schockieren soll: «Wilhelmsburg ist so etwas wie unser aller
Zukunftsvision.» Emil, ihr am schlichtesten gestrickter Gewährsmann, hatte
sich die Zukunft tatsächlich so vorgestellt. In Deutschland könne man gut
leben, weil jetzt fast überall Türken seien. «Bald wird die Mehrheit Türken
sein.» Aber auf die Zuspitzung der Machtfrage wollte es Emil, der von seinen
eigenen Fähigkeiten eine realistische Vorstellung hatte und von denen seiner
Landsleute vielleicht eine zu skeptische, nicht ankommen lassen: «Die
Oberleitung, Präsidenten und so, die sollen Deutsche sein. Denn wenn es jetzt
türkische Präsidenten und so hier gibt, dann ist es gleich wie in der Türkei.»
Mete, der nicht damit rechnete, ohne Umweg ins Paradies zu kommen, gab an, er
respektiere natürlich die Christen, was ja schon im Koran geboten werde. «Jeder
hat seinen eigenen Glauben, das muss man respektieren.» Mit dieser
Respektbekundung wollte Mete sich den Christen nicht unterwerfen. Er konnte
ganz
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