Meinung der Landsleute, auf die Standards der
türkischen Gemeinschaft, die mittlerweile in dem niedersächsischen Städtchen
herangewachsen war. Auch bei der Verheiratung der beiden älteren Geschwister
spielten religiöse Vorstellungen von der rechten Ehe offenbar nicht hinein, weder
bei der Auswahl des Ehepartners noch bei der Abwicklung des Handels.
Die Keleks sind in Deutschland nicht fromm geworden. Es
ist 156 nicht so,
dass die Eltern, die in der Türkei den Glauben schon hinter sich gelassen
hatten, in der christlichen Umwelt ihr Muslim-Sein wiederentdeckt hätten: Diese
doppelte Ironie gibt die Geschichte bei aller Kunstfertigkeit der Erzählerin
nicht her. Ein eigenes Kapitel in «Die fremde Braut» erzählt allerdings davon,
wie der Islam im deutschen Wohnort der Familie Kelek einzog und das gesamte
Leben der Einwanderer veränderte. Zehn Jahre lang war man ohne Gebetsraum
ausgekommen, heute gibt es in der kleinen Stadt drei Moscheen. «Langsam, aber
unaufhaltsam wurden aus den Gastarbeitern Türken und aus den Türken Muslime.»
Dieses Kapitel gibt nicht etwa den Rahmen für die Schilderung der Konflikte in
der Familie vor, sondern wird später eingeschoben. Es ist eine der Episoden
des Buches, deren Gestaltung einer Märchenlogik folgt. Ein einziger Mann, ein
später Neuankömmling, soll den Umsturz der Sitten bewirkt haben: Onkel Ali, ein
Landarbeiter aus Anatolien, der mit der schweren Arbeit in der Fahrzeugfabrik
nicht zurechtkam, dann aber eine Stelle bei der Stadtreinigung erhielt, «die
ihm sehr viel besser gefiel».
Im Hinterzimmer eines von Ali gemieteten Ladens wurde der
erste Gebetsraum eingerichtet. Schon Jahre vorher hatten Ali und seine Frau es
aber geschafft, allein durch ihr Beispiel fast alle Türken am Ort dazu zu
bringen, ihr Alltagsverhalten auf die strenge Befolgung islamischer Normen
umzustellen. Als Alis Frau mit fest gebundenem Kopftuch und im langen geblümten
Rock des anatolischen Dorfs auf die deutsche Straße trat, fiel sie auf. «Denn
alle türkischen Familien in unserer kleinen Stadt waren städtisch, modisch
gekleidet.» Alle? Alle. Als die Nachbarinnen Belehrungen über die Vorbereitung
auf den Ramadan erhielten, wurde zuerst noch gelästert. «Der Islam war bisher
kein Thema gewesen, alle waren sich einig, er
.»
Alle? Alle. Warum haben sich denn dann alle den importierten Regeln gebeugt?
Warum ist Neda Keleks Vater samstags aufs Land gefahren, um einen Hammel zum
Schächten zu kaufen? Die Ausstattung eines charismatischen Reformers hatte Ali
nicht mitgebracht: «ein kleiner dicker Mann mit lustigen Augen», der
leidenschaftlich gern aß. Er genoss kein Sozialprestige, das seine Handlungen
von vornherein nachahmenswert hätte erscheinen lassen. Im Gegenteil: Die
Kollegen und Bekannten folgten einem Vorbild, das ganz unten in der sozialen
Hierarchie stand. In der Fabrik hatte Ali sich als faul und unkooperativ
eingeführt. Dass die Müllabfuhr ihn aufgefangen haben soll, ist wieder einmal
so ein Wink Neda Keleks für ihre deutschen Leser: Der Staat alimentierte den
Lehrer der Desintegration; auf dem freien Markt hätte der
Kaftantaschen-Savonarola keine Chance gehabt.
Die Anstellung bei der Stadt verdankte Ali dem Vater der
Autorin. Das Detail ist aufschlussreich, weil wir über die soziale Stellung von
Duran Kelek in Deutschland wenig und über seine Tätigkeit so gut wie nichts
erfahren. Es soll ihm in mehr als zehn Jahren «nicht gelungen» sein, in
Deutschland «geschäftlich Fuß zu fassen». Immerhin tat die Stadtverwaltung ihm
noch etliche Jahre nach seiner Ankunft den Gefallen, einen offenkundig für die
Arbeitswelt schlecht geeigneten Landsmann einzustellen. Neda Kelek berichtet,
ihr Vater habe Deutschland für seinen Misserfolg verantwortlich gemacht. Er ist
das Urbild jener Integrationsverweigerer, denen sie in ihren Reden und
Fernsehpredigten vorhält, die Schuld für eigenes Versagen auf die Deutschen
abzuwälzen. Auch insofern soll gelten, was Neda Kelek 2oo 5 in der «Zeit» schrieb, dass die Geschichte ihrer Familie
«in vieler Hinsicht ganz typisch für die türkische Entwicklung und den Migrationsprozess»
sei. Aber trifft das auf den ökonomischen Status des Vaters und damit auf die
materiellen Voraussetzungen der Deutschlanderlebnisse der Familie zu? Im
«Zeit»-Artikel gab Neda Kelek an: «Mein Vater ging als einer der ersten
nach Deutschland. »
Der Prinz in der Fremde
Duran Kelek, geboren wohl 1920, war