Bahners, Patrick
Kollektiv
soll Schuld nie bei sich selbst suchen.
Beim Freiburger Dahrendorf-Gedenken beklagte Neda Kelek,
den Schulkindern werde in Deutschland vom ersten Tag an beigebracht, die
Regierung und die Parteien zu kritisieren. Sie müssten zuerst doch den Respekt vor
dem Staat lernen. Damit erntete sie heftigen Zwischenapplaus bei einem Teil
des Publikums. Es überrascht nicht, dass auch in den Augen mancher
freidemokratischer Honoratioren die Staatskritik in der Schule zu weit
getrieben worden ist. Dieselben Würden- und Leistungsträger werden allerdings
wohl in der Wirtschaftspolitik für den Grundsatz «Privat vor Staat» kämpfen.
Der kemalistische Staatskult müsste ihnen ebenso zuwider sein wie eine
Schulpolitik, die Eltern im Namen der Integration die Möglichkeit nehmen will,
die richtige Schulform für ihre Kinder auszuwählen. Kemal Atatürk übernahm das
französische Prinzip des Laizismus und ließ sich zusätzliche
Sicherungsmaßnahmen einfallen. Zu eng, glaubte er, war die Volksreligiosität
mit der zivilisatorischen Rückständigkeit seines Landes verbunden, als dass er
die Gläubigen sich selbst hätte überlassen dürfen. So ruft Neda Kelek nach der
staatlichen Überwachung der Moscheen. In Freiburg forderte sie: «Der Staat
muss mir den Raum geben, diese Menschen auch zu kontrollieren.» Es darf nicht
sein, dass ungestraft Verfassungswidriges gepredigt wird. Zwar soll wohl in der
deutschen Republik die säkulare Öffentlichkeit die Aufgaben der türkischen
Religionsbehörde übernehmen. Aber der Staat muss nach Frau Kelek «einschreiten»,
wo menschenrechtswidrige Bräuche mit religiösen Pflichten gerechtfertigt
werden. Es muss amtliche Geltung erhalten, wenn die Öffentlichkeit bei der
Prüfung einer religiös begründeten Praxis zu dem Schluss kommt: «Nein, das ist
keine Religion mehr.»
Ob sie von den Türken oder von den Muslimen spricht, immer
bemüht sich Neck Kelek darum, ihre Urteile so allgemein zu fassen, dass der
Schattenriss eines riesigen Kollektivs entsteht, einer gefährlichen Masse im
Bann eines archaischen Gruppendenkens. Solche Pauschalurteile können sich als
Zusammenfassung von Erfahrungen der Feldforscherin tarnen: «Respekt ist neben
der Ehre der Begriff, der am häufigsten von meinen muslimischen
Gesprächspartnern gebraucht wird, um sich von den Ungläubigen abzugrenzen. Mit
Respekt ist aber anderes gemeint, als aufgeklärte Menschen darunter verstehen.
Wenn Muslime vor dem Islam einfordern, dann meinen sie nicht
die Achtung oder Anerkennung ihres Glaubens, sondern den Respekt vor dem
Stärkeren - in ihren Augen die Anerkennung, dass der Orient und mit ihm der
Islam auf dem Vormarsch sind. Respekt ist eine Machtfrage.»
Auch die Islamkritikerin nimmt durch ihre Wortwahl
Abgrenzungen vor. Die schematische Gegenüberstellung von Muslimen und
Nicht-Muslimen charakterisiert die Muslime fortlaufend auch indirekt.
Aufgeklärte Menschen verstehen Respekt anders als Muslime, also gibt es unter
Muslimen keine aufgeklärten Menschen. Man kann den geschichtsphilosophischen
Gedanken, dem Islam stehe seine Aufklärung noch bevor, für höchst
bedenkenswert halten und es dennoch geschmacklos nennen, dass Frau Kelek jeden
einzelnen Muslim in den Laufstall eines seelischen Mittelalters sperrt.
Polarisierung ist ihre Methode. So stilisiert sie die Moschee zum Gegenteil der
Volkshochschule und identifiziert sie den Orient und den Islam. Und wir sollen
ihr auch noch glauben, dass sich in den Augen der Muslime die Welt genauso
darstellt. Haben ihre Gesprächspartner denn wirklich das Bild vom Vormarsch
verwendet, die Wunschvorstellung der Islamisten und die Angstvorstellung der
Islamkritik?
Radikalisierung durch Uminterpretation
Die Autorin gibt vor, für ihre Entschlüsselung des Codes
der Respekteinforderung auf ihre Forschungen an der Gesamtschule in Wilhelmsburg
zurückzugreifen. Sie lässt zwei der acht Interviewpartner aus «Islam im Alltag»
wieder auftreten. Den fünfzehnjährigen Emil zitiert sie mit der Aussage, dass
es für ihn eine Sünde wäre, eine Christin zu heiraten. In der Doktorarbeit
hatte sie Emil als den Schüler mit den mit Abstand schlechtesten
Schulaussichten vorgestellt. Den Satz des sechzehnjährigen Mete «Allah ist für
mich alles» deutet sie in «Die fremde Braut» als Bekenntnis zum Vorrang des
Kollektivs, der Familie, der Nation und der Weltgemeinschaft der Gläubigen.
Derselbe Satz sollte in «Islam im Alltag» noch «eine emotionale, von
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