Ball der Versuchung
das »Nicht nachvollziehbare Transportsystem« nannte... Myrnins Türensystem führte zu insgesamt zwanzig Orten in der Stadt, die sie bisher kannte, und einer davon war ihr Wohnzimmer. Ein weiterer Ort war das Gefängnis, das er kürzlich zu seiner Behausung gemacht hatte, ein anderer das Day House und sie vermutete, dass die meisten, wenn nicht gar alle Gründerinnen- Häuser ähnliche Verbindungen hatten.
Es gab auch eine Tür zu Amelies Schloss – zumindest war es in Claires Vorstellung ein Schloss; sie hatte keine Ahnung, wie es von außen aussah. Sie wusste auch nicht, wo in der Stadt es stand. Aber von innen wirkte es alt und sehr, sehr mächtig. Das System hatte Ausgänge im Verwaltungsgebäude der Universität, in der Bibliothek, im Rathaus und im Gebäude des Ältestenrates.
Und dort sollte der Ball stattfinden.
»Ich kann nicht glauben, dass wir das tun«, flüsterte Claire, als Myrnin die leere Wand im Wohnzimmer des Glass House fixierte. »Myrnin, sind Sie wirklich sicher? Vielleicht sollten wir einen Wagen nehmen oder so.«
»So geht es schneller«. sagte er. »Du hast doch wohl keine Angst, oder? Das brauchst du nicht zu haben. Ich bin doch bei dir.« Er sagte das mit unverhohlener Arroganz und einmal mehr durchzuckten sie eisige Zweifel. Ging es ihm wirklich gut? Er brachte seine Gedanken ganz gut zusammen, aber irgendetwas... stimmte nicht. Der sanftmütige Myrnin, der normalerweise nur in kurzen Phasen zurechnungsfähig war, war verschwunden und diesen Myrnin kannte sie eigentlich überhaupt nicht.
Aber er hatte ihr Weihwasser und ein Kreuz gegeben, was er nicht hätte tun müssen. Außerdem... sie brauchte ihn.
Oder nicht?
Es war zu spät, es sich noch einmal zu überlegen. Der Bereich der Wand, den Myrnin anstarrte, flackerte und verschmolz zu grauem Nebel. Der Nebel wirbelte herum, nahm Farbe an und wurde zu Finsternis, die am Boden von einer kaum sichtbaren Linie goldenen Lichts gesäumt wurde.
Es sah aus wie das Innere eines Schrankes.
»Komm«, sagte Myrnin und streckte ihr seine Hand hin. Sie ergriff sie und zusammen betraten sie die Dunkelheit. Sie fühlte, wie sich das Portal hinter ihnen wieder versiegelte, und als sie sich umwandte, war nichts mehr zu sehen.
Es roch nach Putzmitteln, und als Claire mit der Hand umhertastete, berührte sie den Holzstiel eines Putzmopps. Die Hausmeisterkammer. Na ja, so konnte man wenigstens unauffällig hier ankommen, dachte sie.
Außer dass man sich dann noch aus der Hausmeisterkammer hinausschleichen musste.
Myrnin hatte nicht angehalten. Er griff nach dem Türknauf und drehte daran, dann schob er die Tür einen Spalt auf.
»Die Luft ist rein«, sagte er und machte weiter auf. Er trat als Erster hinaus. Claire eilte ihm nach und schloss die Tür hinter ihnen. Sie traten in eine Art Versorgungsflur mit weißen Wänden und roten Teppich.
Keine der Türen dort war beschriftet. Und sie sahen alle gleich aus. Claire versuchte, sie zu zählen, um sicher zu sein, dass sie die Kammer später wiederfinden würden.
»Da lang«, sagte Myrnin und ging nach rechts den Flur hinunter. Seine weiße Tunika bauschte sich beim Gehen auf und eigentlich sollte er mit diesem Verkehrskegel-Hut absolut lächerlich aussehen, aber irgendwie... Irgendwie tat er das nicht. »Ich hätte dich Pierrot sein lassen sollen, kleine Claire. Pierrot ist für seinen sanften, unschuldigen Charakter bekannt. Nicht wie Harlekin. Libitor-Wahnsinn, Claire.«
»Was?«
»Ich sagte, ich hätte dich Pierrot sein lassen sollen...«
»Nein«, sagte sie langsam. »Sie sagten Libitor-Wahnsinn . Was bedeutet das?«
»Ich sagte, was?« Myrnin warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Das ist Unsinn. Aqua lace ist es.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen, und als er schon ein paar Schritte weiter war, bemerkte er, dass sie zurückgeblieben war, und wurde ungehalten. »Claire, Leguan-Zeit.« Claire wir haben keine Zeit.
»Myrnin, was Sie sagen, ergibt keinen Sinn. Ich … ich glaube, die Wirkung des Serums lässt nach.«
»Es geht mir agierend.« Es geht mir gut.
»Können Sie sich selbst hören? Hören Sie, was Sie sagen?« Er hob die Hände. Er merkte nicht, dass er Wörtersalat machte. Neurologische Komplikationen , dachte sie und wünschte sich, sie könnte mit Dr. Mills sprechen. Natürlich, er hatte sich auch einen Teil des Gehirns herausgeschabt. Das könnte Schaden angerichtet haben. Andererseits hatte er bis auf die letzten paar Minuten normal geredet.
Claire versuchte, ihre Stimme
Weitere Kostenlose Bücher