Balla Balla
Zustand? Keine Ahnung. Wahrscheinlich beides. Auf jeden Fall hing Plotek von da an wie tot über der Kloschüssel und lag später im Bett, als wäre er der Allmächtige höchstpersönlich kurz vor der Himmelfahrt. Plotek war am Ende. Zu der Übelkeit kam jetzt auch noch Schüttelfrost hinzu, dann Fieber und Durchfall und zuletzt Kopfschmerzen. Immer wieder musste er sich übergeben, bis gar keine Dosensuppe mehr in ihm war. Sonst auch nichts mehr. Zuletzt leuchtete ihm gelbgrüne Galle aus dem Hotelklosett entgegen. Agnes kümmerte sich aufopferungsvoll um ihn. Was Plotek auch wieder nicht recht war. Leiden ja, dachte er, aber bitte schön schon allein. Plotek konnte es nicht ausstehen, wenn ihm jemand beim Leiden zusah. Auch wenn es seine beste Freundin war. Beste Freundin, sagt man so, ja. Und stimmte auch. Eine andere hatte Plotek nicht. Keine Freundin, kein Freund. Niemanden. Wenn man es genau nahm, hatte Plotek wirklich niemanden außer der Katze Fritz und Agnes. Und die war ihm jetzt sogar auch ein bisschen zu viel. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen. Man muss wissen, dass Plotek zu den Menschen gehörte, die sich nicht so gerne in Gesellschaft anderer aufhielten. Eigentlich nie. Meistens machte er einen großen Bogen um die Gesellschaft. Bei Plotek fing die Gesellschaft da an, wo das Alleinsein aufhörte. Zwei waren sozusagen einer zu viel. Oder aber, einer ging manchmal, zwei nie. Jetzt war auch einer zu viel: Agnes. Obwohl auch Plotek manchmal das Bedürfnis hatte, nicht nur alleine am Tresen zu sitzen und Weißbier zu trinken. Manchmal wollte auch Plotek zu zweit trinken, essen, fernsehen und kuscheln. Obwohl Plotek nicht so der Kuscheltyp war. Höchstens nach sechs Weißbier und drei Tequila erinnerte die Zweisamkeit bei ihm an so etwas Ähnliches wie Kuscheln, Zärtlichkeit und alles. Aber das war dann schon eher die Ausnahme von der Regel. Also, manchmal so und manchmal so und dann wieder anders.
Und jetzt wieder nicht. Jetzt wäre Plotek am liebsten alleine und ohne Agnes gewesen. Aber das traute er sich nicht zu sagen. Also sagte er eben nichts, schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Keine Chance. Er schlief zwar ein, aber das war kein erholsamer Schlaf, das war kein schöner
Schlaf, vielmehr jagte ein Albtraum den anderen. Bis zum Morgen. Zuletzt träumte er von Wien. Wie das kam? Keine Ahnung. Auf jeden Fall roch es plötzlich im Traum nach der Wiener Untergrundbahn. Auch gut, hätte Plotek im Traum denken können, wenn er gedacht hätte. Endlich ist der widerliche Suppengeruch weg. Zwischen dem Suppengeruch und dem Wiener Untergrundbahngeruch lagen nicht nur Welten, sondern ein ganzes Sonnensystem. Das eine erinnerte an einen Scheißhaufen in der Sonne, das andere an romantischen Sex in nächtlichen Hauseingängen im Frühling. Und der Traum erinnerte an Wien. An die Wiener Untergrundbahn auf Höhe des Westbahnhofs neben dem Würschtlstand, wo die Rolltreppe hinunter in die U3 führt. Da sieht man mal wieder, wie genau Träume sein können. Plotek nahm eine Nase voll von diesem betörenden Duft, der mit jedem Atemzug tiefer ging und ins Herz gelangte und Wien somit in der Brust weiterschlug. Wien. Die Stadt der Melancholiker. Die Stadt, in der das Warten zur Erfüllung wird. Eine Stadt, in der jegliche Bewegung auf der Stelle tanzt. In der Geschwindigkeit bewegungslos wird und das Warten zeitlos ist. In der die Zeit vergeht, ohne dass etwas kommt. In diesem Moment allerdings kam die Untergrundbahn. Plotek stieg ein und die Türen schlossen automatisch. Eine unterirdische Stadtrundfahrt begann. Die Waggons waren bis auf den letzten Platz besetzt. Aber nicht mit Wienerinnen. In Wien leben keine Wienerinnen. In Wien lebt einzig Wien. Wien ist keine Stadt, Wien ist ein Zustand. Die Umstände führen die Menschen in einen Zustand. Ein zugiger Herbstwind in engen Gassen. Ein verlassener Cafehausstuhl vor einem kleinen Braunen. Schachmatt auf grünem Filz im Cafe Schopenhauer. Ein angebissener Käsekrainer am Gürtel. Ewige Liebe eingeritzt im Prater. Ein Halbschuh im warmen Pferdeapfel am Stephansdom. Das ist Wien. Und die Untergrundbahn natürlich. Und ihr Geruch. Plotek saß am Fenster und schaute hinaus in das Tunnelschwarz. Es ist ein anderes Schwarz als das in München, Berlin oder Hamburg. Ganz in Gedanken fuhr Plotek durch den Tunnel und schaute so lange ins Dunkel, bis das Dunkel aus ihm schaute und sich plötzlich hell erleuchtete Bilder spiegelnd an den Fenstern zeigten. Da waren
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