Balla Balla
feuchte Hände. Deswegen machte er auch, wenn es irgendwie möglich war, einen großen Bogen um jegliche Art von Menschenansammlungen. In ein Stadion ging Plotek schon seit Jahren nicht mehr. Fußball fand bei ihm nur noch im Fernsehen statt. Zu Hause oder über der Tür im Froh und Munter . An sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen nahm er schon lange nicht mehr teil. Selbst dem Theater, seiner früheren jahrelangen, nicht nur berufsbedingten Leidenschaft, war er längst nicht mehr verfallen. Der Oper auch nicht. Eigentlich hat er kein Theater mehr betreten, seit er selbst nicht mehr aktiv auf der Bühne stand. Und das war auch gut so. Was hätte er da auch zu suchen gehabt, in diesen inzestuösen Anstalten, in denen sich alles nahezu ausschließlich um sich selbst dreht. Theater hier, Theater da, Bussi, Bussi und alles. Dafür war er einfach nicht mehr eitel genug. Dafür ging ihm der ganze Theaterbetrieb viel zu sehr am Arsch vorbei. Ab und zu sah er noch ein paar von den Schauspielern, mit denen er auf der Bühne gestanden hatte, im Fernsehen, langweilte sich und dachte, die werden auch nur älter.
Jetzt strömte er mit allen anderen Fußballverrückten auf das Stadion zu. Das war schon eine eigenartige Stimmung inmitten dieser stinkenden Fangruppen, bei denen nichts anderes als Schweiß, Bier und Zigarettenrauch auf dem olfaktorischen Waschzettel zu stehen schien. Frisch geduscht wie Plotek war, hob er sich eindeutig von den anderen ab. Aber egal. Zuerst kaufte er sich ein Bier und ... hopsala – schon klebte es halb auf seiner Cordjacke. Olfaktorische Annäherung.
»Entschuldigung«, sagte ein Rauschebart mit grün-rotem Schal um den Hals und lustigen Augen, der Plotek in die Quere gekommen war. Als Entschuldigung reichte er Plotek eine Zigarette, die ihn eindeutig an eine verbotene Substanz aus der Jugend erinnerte.
»Willste mal?«
Warum nicht, dachte Plotek, obgleich er um alles, was mit Jugend und Kindheit zu tun hatte, einen großen Bogen machte, so groß wie die ganze Ostalb. Andererseits war Plotek noch nie dogmatisch gewesen, hielt sich eher an die Ausnahme als an die Regel und griff jetzt zur dicken Zigarette, führte sie zum Mund und nahm einen tiefen Zug, der augenblicklich eine Schneise auf dem Weg zur Lunge schaufelte. Schlagartig hielt eine Leichtigkeit Einzug, die er schon lange nicht mehr hatte erleben dürfen.
»Gut, was?«
»Hm«, machte Plotek und grinste.
Die lustigen Augen des Rauschebarts funkelten und sein Bierbecher stieß gegen den von Plotek.
»Prost!«
»Prost!«
Beide standen nebeneinander auf der Tribüne und sahen den Kickern zu, wie sie von rechts nach links und von links nach rechts rannten. Dabei zog Plotek immer wieder am angebotenen Joint und dachte, warum machen die das bloß? Auf und ab und auf und ab. So was Blödes! Gesagt hat er natürlich nichts. Und schon fiel das erste Tor. Alle jubelten und der Rauschebart fiel Plotek um den Hals. Es stand eins zu null für Altona-Nord.
»Das gibt die Pokalsensation«, sagte der Rauschebart, als der Jubel schon wieder ein wenig verklungen war.
»Hm«, machte Plotek, zog wieder an der verbotenen Substanz und merkte, wie sich plötzlich alles veränderte.
»Gut, oder?«, fragte der Rauschebart und Plotek fragte sich, was ist das für eine Fragestellung. Er ließ die Frage unter den Tisch fallen und kam sofort zur Stellung, nicht irgendeiner, sondern der, die er als Heranwachsender und -wichsender im Kamasutra gefunden hatte. Im Kamasutra gab es genau 69 verschiedene Stellungen, die von schlitzäugigen Probanden in atemberaubenden Verrenkungen vorgeführt wurden. Wenn die Fantasie fehlt, ist Ficken ein akrobatischer Akt, dachte er jetzt. Das Kamasutra war Lebenshilfe – »Wie entdecke ich mich selbst« – oder einfach Wichsvorlage vom Bücherclub für gehemmte Dörfler. Das Jahresabonnement war einem völlig überteuert bei Nieselregen an der Haustür aufgeschwatzt worden, dann hatte man das Igittigittbuch mit Anspruch bestellt und vor den Kindern im Speicher versteckt. Schlange, Tiger, Hund ...
»Hallo?«, hörte Plotek jetzt einen grün-roten Schal sprechen. Dazu das Lachen völlig fremder Menschen, die plötzlich die Physiognomie von Bekannten annahmen. War das nicht Andy Brehme und dort Lothar Matthäus und da die
Weltmeister-Mannschaft von 1974? Hoeneß, Breitner, Netzer, Beckenbauer, die »Gute Freunde kann niemand trennen« sangen?
Vor Ploteks Augen blitzte es jetzt und Rauchwölkchen stiegen auf, als wollten
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