Balla Balla
irritiert war. Was hatte er mit Jo Hillebrand zu schaffen? Und mit Schwester Sieglinde? Dass sie ihm Cognac verabreicht hatte, war nett, sie selbst auch, und dass sie den Kommissar angeschwindelt hat – okay. Aber deswegen muss sie mich ja nicht gleich in den Denunziantenstand heben und zum Spitzel hochsterilisieren, um es mit Bruno Labbadia zu sagen.
»Ach so, Herr Plotek«, rief ihm die Schwester nach, als er bereits wieder auf dem Flur war, »beinahe hätte ich es vergessen. Sie müssen umziehen. Ihr Zimmer ist bis auf weiteres versiegelt. Ich habe Ihnen in 401 ein Bett fertig gemacht. Ist das recht?«
»Ja.«
7
Im Zimmer 401 roch es wie in Ploteks Lieblingsgaststätte. Soll heißen, nach Rauch, Bier und altem Fett. Ungewöhnlich für ein Krankenzimmer, dachte Plotek und wunderte sich ein wenig. Im Zimmer standen zwei Betten, eines davon war belegt. Ein Mann, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter als Plotek, dünn, fast schon hager und auf der Stirn ein auffälliges Brandmal wie der frühere sowjetische Führer.
»Heute ist immer ein schlechter Tag«, sagte der Mann mit harter osteuropäischer Sprachfärbung und leicht lispelnd.
Das habe ich schon mal gehört, dachte Plotek.
»Wilfried Schäfer ist Ihnen ein Begriff, oder?«, sagte der Mann und zwinkerte, als hätte er etwas im Auge.
Plotek nickte und dachte, nicht ganz korrekt, nicht Wilfried, sondern Winfried – wenn schon. Das sagte er aber nicht, sondern was anderes, nämlich »KSC«, und zwinkerte ebenfalls.
»Stuttgart.«
»Kamerun.«
Jetzt zwinkerten beide und lachten. »Spielen Sie Schach?«, fragte der Mann.
»Schlecht.«
»Macht nichts – gewinnen tu ohnehin immer ich.« Der Mann öffnete das Nachtkästchen und holte ein aufklappbares Schachbrett und die dazugehörigen Figuren aus Holz heraus.
»Ich nehme schwarz.«
»Meinetwegen.«
»Fangen Sie an.«
»Wenn es sein muss.«
»Es muss!« Der Mann mit dem Brandmal lachte und Plotek lachte auch. Das Lachen verging ihm aber schnell, denn nach wenigen Zügen war Plotek klar, dass er gegen den Mann keine Chance hatte. Der sieht nicht nur aus wie ein sowjetischer Führer, dachte Plotek, der spielt auch wie ein russischer Schachgroßmeister. Das war ein russischer Schachgroßmeister! Jede Figur, die der Schachgroßmeister des Feldes verwies, stellte Plotek neben das Brett, sodass sie akkurat in einer Reihe auf dem Nachttischchen standen und an einen Soldatentrupp auf dem Exerzierplatz erinnerten.
»Schach!«
Scheiße, dachte Plotek, wieder nicht aufgepasst. Er nahm den geschlagenen Turm und stellte ihn zu den anderen Figuren, sorgfältig und so sehr um Genauigkeit bemüht, dass es fast schon beängstigend war. Plotek konnte sich nicht mehr auf das Spiel konzentrieren. Er war wie versessen darauf, für Akkuratesse neben dem Brett zu sorgen. So etwas gab es ja oft. Man stellt die Zahnbürste immer genau so in den Zahnputzbecher, dass sie mit den Borsten nach vorne weist. Sonst kann man nicht schlafen und muss aufstehen, um sie in die richtige Position zu bringen. Oder man springt über Asphaltplatten und darf auf keinen Fall auf die Fugen treten, weil man sonst augenblicklich von Bomben zerfetzt werden könnte.
»Zwanghaft«, sagte der Schachgroßmeister, dem Ploteks Ordnungswahn aufgefallen war. »Ich kenne das.«
Ich nicht, dachte Plotek und sah besorgt auf das Schachbrett, auf dem kaum mehr weiße Figuren zu sehen waren.
Plotek war noch nie ein Ordnungsfanatiker gewesen, auch Rituale spielten in seinem Leben keine große Rolle. Und die Zwänge, von denen er nicht lassen konnte, waren alles andere als pathologisch. Höchstens der Zwang, immer zum Arzt gehen zu müssen. Aber dafür gab es ja handfeste Gründe: Hodenkrebs, Lungenkrebs, Herzinfarkt und alles. Oder zumindest der Verdacht darauf. Ansonsten war Plotek von Kindesbeinen an eher ein undurchschaubarer Chaot, der meistens alles liegen ließ und nie nichts aufräumte.
»Vor mir war früher kein Wasserhahn sicher«, sagte der Schachgroßmeister wieder in seinem unnachahmlichen osteuropäischen Akzent. »Ich musste ständig kontrollieren, ob Herdplatten und Lichtschalter ausgeschaltet waren.«
Grauenvoll, dachte Plotek und ordnete die Schachfiguren neben dem Brett. Jetzt auch die Schwarzen des Schachgroßmeisters.
»Ich war nicht mehr ich selbst. Ich war gefangen in meinen Zwängen. Putzen, zählen, sammeln, kontrollieren auf Teufel komm raus. Und das Schlimmste, ich konnte keine Türklinken mehr anfassen«, sagte der
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