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Ballard, James G.

Ballard, James G.

Titel: Ballard, James G. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Welt in Flammen
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Strand bisher unversehrt
überstanden hatten. Die Kälte und das Salzwasser hatten nur den dünnen Firnis
guter Erziehung abgetragen, so daß darunter ihr wahrer Kern zum Vorschein kam.
    Ransom runzelte nachdenklich die
Stirn, als er Judith betrachtete, die auf der Seite lag und die bläuliche
Flamme des Ofens anstarrte. Obwohl sie die letzten fünf Jahre miteinander
verbracht hatten – fünf arktische Winter und fünf Sommer, in denen die
Salzdünen wie Kreidefelsen unter einer strahlenden Sonne lagen –, bestand kaum
eine persönliche Verbindung zwischen ihnen. Der Erfolg, falls dieser Ausdruck
überhaupt zutraf, ihrer gegenwärtigen Interessengemeinschaft war durch sachliche
Umstände und Gegebenheiten bestimmt worden, denen sie beide allein hilflos
ausgeliefert gewesen wären.
    Er stand auf. »Ich hole einen Fisch
herunter, damit wir etwas zum Frühstück haben.«
    »Können wir uns das leisten?«
    »Nein. Aber vielleicht kommt heute
nacht eine Flutwelle.«
    Alle drei oder vier Jahre ereignete
sich irgendwo ein Seebeben und erzeugte eine gewaltige Flutwelle, die den
Strand überspülte. Die dritte und vorläufig letzte dieser Wellen war vor zwei
Jahren eine Stunde vor Tagesanbruch über die Küste hereingebrochen und hatte
den Strand kilometerweit überflutet. Hunderte von Hütten waren in dem hüfthohen
Wasser zusammengebrochen, das auch die Reservoirs innerhalb weniger Sekunden
mit sich fortschwemmte. Die Siedler hatten nur hilflos verzweifelt zusehen
können, wie das Wasser ihre gesamte Habe vernichtete oder davontrug. Während
die Flut allmählich wieder zurückging, waren die Strandbewohner auf die
höchsten Dünen geklettert und hatten dort den Morgen erwartet.
    Als die Sonne dann am Horizont erschien,
hatten sie ein gewaltiges Schauspiel vor Augen. Zwischen den Dünen waren
Zehntausende von gestrandeten Fischen zurückgeblieben, und jeder kleine Tümpel
war mit Krabben und anderen eßbaren Tieren gefüllt. Das nun folgende
Schlachtfest, an dem auch die Möwen kreischend teilnahmen, hatte die
Lebensgeister der Zurückgebliebenen wieder geweckt. Sie waren unter Johnstones
Führung drei Wochen lang von einem Tümpel zum anderen gezogen und hatten sich
so vollgegessen, als wollten sie für die nächsten Jahre vorsorgen.
    Ransom ging langsam zu dem
Fischbecken hinüber und dachte nicht an diese Flutwelle, sondern an die erste,
die knapp sechs Monate nach seiner Ankunft die Küste überschwemmt hatte. Damals
waren kaum Fische, aber Tausende von Leichen an den Strand getrieben worden.
Die unzähligen Leichen, die sie nach dem blutigen Kampf um die Küste ins Meer
geworfen hatten, waren wieder zurückgekommen und lagen jetzt bleich und
aufgedunsen in den Tümpeln zwischen den Dünen. Sie hatten nächtelang gearbeitet
und die Leichen in Massengräbern unter den ersten Salzhügeln beigesetzt. Ransom
wachte noch lange danach gelegentlich auf und ging in die Dunkelheit hinaus,
weil er geträumt hatte, die gebleichten Knochen sprössen durch das Salz zu
seinen Füßen.
    In den letzten Wochen waren diese
Erinnerungen, die Ransom so lange unterdrückt hatte, verstärkt zurückgekommen.
Während er einen Hering mit dem Paddel aus dem Wasser holte, überlegte er sich,
daß sein Widerwille gegen das Leben in der Siedlung vielleicht darauf beruhte,
daß er Fische mit Leichen identifizierte. Aber obwohl er nur mit Abscheu an die
unbedeutende Rolle zurückdachte, die er während des Massakers gespielt hatte,
war er sich jetzt im Grunde genommen darüber im klaren, daß er sich der streng
reglementierten Gemeinschaft des Reverends anschließen würde. Vielleicht gelang
es ihm dadurch, die Erinnerungen zum Schweigen zu bringen, denen er sich allein
hilflos ausgeliefert wußte.
    Als der Fisch in der Pfanne briet,
sagte er zu Judith: »Grady zieht bald in die Siedlung.«
    »Was? Ausgeschlossen!« Judith machte
eine wegwerfende Handbewegung. »Er ist schon immer ein Einzelgänger gewesen.
Hat er selbst davon gesprochen?«
    »Nicht richtig, aber ...«
    »Dann bildest du dir alles nur ein.«
Sie teilte den Fisch und schob Ransom seine Portion zu. »Jonathan Grady ist
sein eigener Herr und Meister. Er würde es bei dem verrückten alten Pfarrer und
seinen übergeschnappten Töchtern keine Woche lang aushalten.«
    Ransom kaute auf dem weißen Fleisch
herum. »Er hat davon gesprochen, als wir auf die Flut warten mußten. Ich habe
deutlich gemerkt, wie sehr ihn diese Frage beschäftigt – er ist vernünftig
genug, um zu erkennen, daß

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