Ballast oder Eva lernt fliegen
aufschlug, war es bereits später Vormittag. Diesmal gelang es Eva, sich aufzusetzen. Es dauerte seine Zeit, bis ihr Verstand den erbärmlichen Zustand des dazugehörigen Körpers voll erfasst hatte. Nach kurzer Verschnaufpause machte er sich auf die Suche nach einer Erklärung. Kaum war die Frage gefunden und gestellt, da blendete ein rücksichtsloser Beamer auf und warf als Antwort das Bild weißer, gähnender Leere an Evas Schädelrückwand. Auf Verblüffung folgte schockartig die Erinnerung. Eva eilte, alle Schmerzen verdrängend, ins Badezimmer. Weiß. Alles war weiß! Und leer. Nichts als unwirkliche, feindselige, weiße Leere! Eva hob mechanisch die Hände und schloss die weit geöffneten Spiegeltüren des geplünderten Toilettenschränkchens. Da blitzte in ihnen ein bunter Fleck auf. Eva fuhr herum: Hinter der Badezimmertür, auf einem weiß lackierten Hocker, lagen neben Föhn und Kamm eine armselige Handvoll Tuben und Fläschchen, die einzigen Überlebenden einer Naturkatastrophe.
In Zeitlupe wandte Eva sich wieder um und stellte sich dem Feind in Gestalt ihres Spiegelbildes. Das Kosmetik-Arsenal eines Wellness-Hotels hätte nicht ausgereicht, um die Spuren der vergangenen Nacht von ihrem Gesicht zu tilgen. Und was war ihr geblieben? Ein Döschen Creme und ihre Zahnbürste!
In der Küche wünschten ihr zwei braunverklebte Tassen und Whiskey-Gestank einen schlechten Morgen. Selbst in unver-katertem Zustand wäre Evas Laune bei dieser Begrüßung sofort unter den Nullpunkt gesunken. Morgens musste ihre Küche aufgeräumt und hygienisch einwandfrei sein, das war eines ihrer Gesetze. Christian konnte ein Lied davon singen.
Nach einem nächtlichen Gelage mit Freunden hatte er es einmal, und wirklich nur dieses einzige Mal, gewagt, die Überreste einfach in die Küche zu packen und dann, ohne weiteren Umweg und mit schwerem Kopf, in sein Bett zu fallen. Vier Stunden später, es war früher Sonntagmorgen, war seine Mutter ins Zimmer gerauscht, bewaffnet mit einer Wagner-CD, mit deren Hilfe sie seine Musikanlage in ein Folterinstrument verwandelt hatte. Weder Müdigkeit noch Kopfschmerzen hatten Christian mildernde Umstände eingebracht. Die Nibelungen-Geißel war erst abgestellt worden, als er endlich auf dem Weg in die Küche gewesen war. Nachdem er Essensreste in den Müll und Geschirr in die Spülmaschine verfrachtet hatte, was kaum vier Minuten in Anspruch genommen hatte, hatte er weiterschlafen dürfen.
Eisige Luft walzte den Alkoholmief nieder, als Eva das Fenster aufriss. Bleigrauer Himmel oben, schmutzigrauer Schneematsch unten. Passt ja perfekt zu meinem Teint, dachte sie und drehte der Kälte den Rücken zu.
Auf dem Küchentisch stand ein hübsch bedruckter, quadratischer Pappkarton. Mit seiner quietschrosa Schleife lachte er sie an, als wollte er beweisen, dass es Katastrophen gar nicht gab. Weder in Japan, noch im Libanon, und schon gar nicht in ihrem Badezimmer. Ergeben seufzend löste Eva die Schleife und packte den kleinen Kuchen aus, den sie am Vortag bei ihrer Lieblings-Konditorei eingekauft hatte. Alles Gute zum Vierzigsten!, dachte sie und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Je zwei Aspirin, Stunden und Tassen Kaffee später fühlte Eva sich in der Lage, dem Leben im Allgemeinen und ihrem Spiegelbild im Besonderen ins Gesicht zu sehen. In ihrem Kühlschrank wartete ein Feinkost-Menü für zwei Personen darauf, in die Mikrowelle bugsiert zu werden. Und da Frust auf Eva stets appetitfördernd wirkte, aß sie beide Portionen alleine auf.
Beim Kuchen angelangt war Eva wieder ganz die alte: unverwüstlich und pragmatisch. Da Sonntag war, würde sie am nächsten Tag wohl oder übel ungeschminkt zur Arbeit gehen, doch auf dem Heimweg wollte sie ihre Lieblingsdrogerie plündern. Die Liste, die sie in der Nacht stenographiert hatte, würde ihr dabei wertvolle Dienste leisten. Sie fand sie nach längerer Suche in ihrem Bett, total zerknautscht, da sie sich auf ihr ausgeruht hatte. Einige Minuten lang starrte Eva auf das notdürftig geglättete Papier, bis die kryptischen Krakeleien darauf in sinnstiftende Stenokürzel mutierten. Doch auch dann konnte sie ihre Notizen kaum entziffern. Sie hatte jahrelang nicht mehr stenographiert und war in der Nacht nicht eben in bester Verfassung gewesen. Mit dieser Liste, so wie sie war, konnte Eva unmöglich einkaufen gehen.
Sie beschloss also, eine Reinschrift anzufertigen. Vor ihr lag noch ein halber Geburtstag, ohne jede Aussicht auf Unterhaltung oder gar
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