Ballast oder Eva lernt fliegen
hängten sich an Eva und ließen sie nicht fort. Da merkte sie, dass noch andere Wärme da war. Das leichte Gewicht, das sich auf sie gelegt hatte: Es war eine Jacke. Sie sah den Gärtner nun ganz deutlich vor sich sitzen. Durch ihn hindurch schimmerte der blaue Erdball. Boskops hageres Gesicht sah Eva freundlich an. Beim Sprechen hüpfte sein Adamsapfel. Eva erinnerte sich, dass sie es immer gemocht hatte, ihn sprechen zu hören und zu sehen. Die Erinnerung wog schwer.
Die warme Jacke machte, dass Eva den kalten Fels spürte und ihre steifgefrorenen Beine.
„ Mir ist kalt.“
Das war nicht Boskops Stimme. Es war Evas eigene Stimme, die von weit hergekommen war. Das hagere Gesicht verschwand und ließ den blauen Planeten zurück, wieder gesichtslos und rund. Eva erschrak und fühlte Sehnsucht an sich zerren, machtvoller als es der Kieselstein und die Erinnerung vermochten. Da fühlte sie sich aufgehoben. Dann saß sie nicht mehr auf kaltem Felsen. Unter und um sich spürte sie warmes Leben, und starke Hände hielten sie fest. Sehnsucht und Wärme sind machtvoller Ballast, dachte Eva und beobachtete, wie die Erde näher kam und anwuchs. Als die Ränder der Kugel aus ihrem Sichtfeld verschwanden, schmerzten Evas Hände und Füße von der zurückkehrenden Wärme. Erst als sie die Landschaft mit dem Hügel und dem Felsen darauf erkannte, hielt sie in ihrem Abstieg inne. Dort unten saßen sie beide. Eva wusste, dass sie sich nun entscheiden musste. Wenn sie es wollte, konnte sie für immer davonfliegen ins Nichts.
„Schau, meine Eva, den schenke ich dir.“
Boskop nahm ihre Hand und legte einen Apfel hinein. „Der ist aus meinem Garten.“
Eva sah den Apfel an und roch an ihm. Er roch verführerisch.
„ Iss nur!“, sagte Boskop, „Er ist saftig und süß.“
Eva biss hinein und spürte den süßen Saft in ihrem ausgedorrten Mund. Sie kaute mit geschlossenen Augen, um sich ganz auf ihren Apfel zu konzentrieren. Er schmeckte so köstlich nach Leben. Genug Ballast, dachte sie, für eine sanfte Landung.
„Warum bist du hier?“, hörte sie sich fragen. Sie hielt die Augen fest geschlossen, um die Landschaft dort unten nicht sehen zu müssen. Sie hatte Angst vor der großen Höhe bekommen.
„ Ich habe dich gesucht“, antwortete Boskop.
„ Warum?“, fragte sie wieder.
„ Weil du meine Eva bist.“
„ Ja“, sagte Eva und öffnete die Augen. Sie schwebte nicht mehr oben am Himmel. Sie saß auf Boskops Schoß auf dem Felsen und sah in das weite Land hinaus. „Ich bin deine Eva. Und du bist mein Gärtner Boskop.“
Da lachte Boskop und schlang seine Arme fester um sie.
„Kennst du denn meinen Namen nicht?“, fragte er. „Ich bin Adam. Adam Boskop.“
Zitate stammen aus
Drukpa Rinpoche: Tibetische Weisheiten. München: dtv, 2000.
Sarah Stacey und Josephine Fairley: Beauty Bible. München: Midena Verlag, 2000.
Erich Fromm: Haben oder Sein. München: dtv, 2001.
Dank an Christiane für die kurze Einführung in die Mysterien moderner Kosmetik.
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