Ballast oder Eva lernt fliegen
des Desasters: Seit nun schon fünf Minuten suchst du nach dem Fläschchen mit deinem Make-up-Entferner.
Was meinen Sie: Soll ich ihr helfen, meiner Eva? Ich könnte ihr zeigen, wo das Fläschchen steht. Sie selbst hat es dort abgestellt, zwei Stunden ist es her. Sie kann es nicht finden, weil sie blind ist von Tränen und Wut, und weil es nicht an seinem gewohnten Platz steht. Sonst steht es immer an seinem Platz. Doch bei all der Eile hat sie es ausgerechnet an diesem besonderen Tag auf der Ablage neben dem Waschtisch stehen lassen. Als sie sich, bereits zum dritten Mal, einen neuen Anstrich verpasste. Es hatte eben alles perfekt sein sollen für ihren großen Abend.
Soll ich ihr die blind tastende Hand führen?
Nein. Denn dann könnte Eva Idengart niemals zur Ikone werden. Es gäbe keine Geschichte zu erzählen, weder eine glaubhafte, noch eine verrückte wie diese hier. Lassen wir den Dingen ihren Lauf.
Nur eines sei hier noch gesagt. Es ist dies keine Novelle, die auf Realismus pocht. Als Parabel sei sie vielmehr verstanden. Ihre Figuren sind keinen realen Personen nachempfunden, sondern stellen Typen dar. Wenn Ihnen also an einer Stelle der Erzählung Personen und Situationen bekannt und vertraut vorkommen sollten – nun, so ist dies durchaus so gewollt.
EINS
Großzügig auftragen: Die meisten Masken funktionieren gut, wenn man sie dick aufträgt.
Beauty Bible
Mit Ende dreißig, und da beginnen die Ereignisse, von denen ich erzählen will, war Eva Idengart noch unbestreitbar eine atemberaubende Schönheit. Groß war sie und üppig, aber von einer Üppigkeit, die auch die ärgsten Lästerzungen nicht in die Nähe zu vieler Pfunde hätten rücken können. Sie bewegte sich mit einer Elastizität, wie sie nur Raubtieren und bestimmten Sportlern zu eigen ist, und ihr Teint war, soweit ihr perfektes Make-up irgendwelche Rückschlüsse zuließ, geradezu makellos. Die Einschränkung ist notwendig, denn sie selbst war mit ihrer Haut durchaus nicht einverstanden. Zu ihrem Leidwesen hatte sie Sommersprossen, doch diese bleichte sie regelmäßig und die traurigen Reste verschwanden unter der Grundierung. Kaum jemand wusste, dass sie ein grünes und ein blaues Auge besaß, da sie diesen Ausrutscher der Natur mit farbigen Kontaktlinsen ausglich. Stolz war sie auf ihr sanft gewelltes Haar, denn es leuchtete in herrlichem, natürlichem! Kupfer, was bei sorgfältig ausgewählter Garderobe und gekonnt abgestimmten Accessoires einen geradezu unglaublichen Effekt ermöglichte.
Eva war schön. Und sie wusste es.
Die Männer wussten es auch, sofern sie nicht blind waren. Doch im Leben dieser atemberaubenden Frau hatte es fast vierzehn Jahre lang nur einen einzigen Mann gegeben: ihren Sohn Christian. Bis dieser eines Tages in ein Flugzeug stieg, um hinter den Wolken und aus Evas Leben zu verschwinden.
Mir tut der Junge leid. Er flog mit argen Gewissensbissen im Gepäck nach Australien, denn ihm war klar, dass es ihn ebenso von zu Hause weg, wie nach Melbourne hin zog. Schon einmal hatte er diese Reise gemacht, doch dieses Mal ging er um zu bleiben. Wolfgang Türmer, sein Vater, hatte dreizehn Jahre, neun Monate und sieben Tage zuvor den selben Fluchtweg eingeschlagen, auch er war down under untergetaucht und hatte seinem kleinen Sohn nicht viel mehr als seinen Nachnamen zurückgelassen. Dem Vater war dieser Ausweg aus dem ihm die Luft nehmenden Zusammensein mit Eva (die, ich muss es gestehen, in mancherlei Hinsicht atemberaubend sein konnte) ganz unverhofft aufgegangen, als er zum Hauptsitz seiner Firma nach Melbourne gesandt wurde, um an einer wichtigen Konferenz teilzunehmen. Dort hatte er gleich am ersten Abend seines zweiwöchigen Aufenthalts eine schüchterne, nette, unscheinbare Frau kennen gelernt und aus den zwei Wochen waren inzwischen eben diese dreizehn Jahre, neun Monate und sieben Tage geworden. Eva hatte ihn nie wieder gesehen. Den Kontakt zum kleinen Christian hatte der Vater indes aufrechterhalten, soweit Briefpost und moderne Technik eine Kommunikation über die Kontinente hinweg eben ermöglichten.
Auch ohne die siegreiche Konkurrentin gesehen zu haben, war Eva klar, dass diese unmöglich schöner sein konnte als sie selbst. Was sie indes mit ohnmächtiger Wut und stolzem Schweigen zur Kenntnis genommen hatte, war, dass die andere jünger war, ein im Grunde lächerlicher Umstand angesichts der Tatsache, dass Eva damals selbst erst Mitte zwanzig war, und, dass die Australierin – noch – kein Kind zu
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