Ballast oder Eva lernt fliegen
wiederholten sich in ihren ungleichen Augen, wodurch diese weniger irritierend, als vielmehr interessant wirken würden. Ja, dachte Eva, so würde es gehen. Wenn sie schon den Dresscode verletzte, so wollte sie dies doch erhobenen Hauptes tun.
Ihre Laune besserte sich merklich, was sogleich ihren Tatendrang auf den Plan rief. Der Abend war noch jung und noch konnte sie etwas für sich tun. Einige Punkte, die ihr Großes Programm vom Mittleren abhoben, benötigten keinerlei kosmetische Hilfsmittel und schienen ihr genau die richtigen Maßnahmen zu sein, um ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein gemeinsam mit ihrem Teint ein wenig aufzupolieren. Mit Begeisterung stürzte sie sich in ihre Zwanzig-Minuten-Meditation, nach dieser massierte sie sich intensivst das Gesicht und als sie sich im Anschluss daran ein Bad einließ (als Badezusatz musste mangels Öl, Salz oder Schaum eine Kanne Kräutertee herhalten), drehte sie das Wasser kurzentschlossen wieder ab, um vorher noch schnell eine Runde Turbo-Gymnastik einzuschieben.
Eva schlief gut in dieser Nacht.
Am Montagmorgen trieb Schneeregen an ihrem Küchenfenster vorbei. Eva erwog kurz, sich krank zu melden, doch kneifen war ebenso wenig ihre Sache wie Halbheiten. Todesmutig stieg sie in ihre gefütterten Stiefel, ohnehin die einzigen Schuhe, die zu ihrem Wollkleid in Frage kamen, freute sich dann, weil diese so herrlich bequem waren, und beschloss kurzerhand, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Ihr warmer Wollmantel passte praktischerweise bestens zu ihrem Outfit und das bisschen Schneeregen konnte keinen Schaden anrichten, da sie ja weder frisiert noch geschminkt war.
Die frische Luft tat gut. Sie vertrieb die Nachwehen ihrer Schoko-Whiskey-Orgie und hob ihre Stimmung, obgleich oder gerade weil ihr der Schnee unter dem Schirm ins Gesicht stob. Eva hatte stürmisches Wetter immer gemocht, Gewitter liebte sie. Ihr gut trainierter Körper verlangte nach Bewegung und gerne wäre sie öfter zu Fuß gegangen. Doch Pumps sind keine Wanderstiefel, und perfektes Styling verträgt sich weder mit sommerlicher Hitze, noch mit hoher Luftfeuchtigkeit oder gar stürmischen Böen.
Erhitzt von einem Zwanzig-Minuten-Marsch, die Haare windzerzaust und mit glänzenden Augen trat Eva in das große automatische Drehkreuz. Noch ganz außer Atem klopfte sie ihren Mantel ab und legte sich passende Antworten zurecht, für den Fall, dass sie auf ihr Kleid angesprochen würde, als sie beim Verlassen des Drehkreuzes mit einem großgewachsenen Mann kollidierte.
Ein gedehntes Hallo, starke Arme und knallblaue Augen empfingen sie. Eva fühlte sich puterrot werden, als sie erkannte, wem sie da so unverhofft in die Arme gefallen war. Bernd Liebig war – nein: kein Ingenieur – der neue Assistent des Geschäftsführers und der Schwarm aller Sekretärinnen und Empfangsdamen. Und er hatte Eva noch nie auch nur die geringste Beachtung geschenkt.
Dieser Traum von einem Mann entschuldigte sich nun wortreich bei ihr und erkundigte sich besorgt, ob er ihr etwa wehgetan habe. Vor allem aber schien er Eva nur ungern loszulassen. Verblüfft registrierte sie seine bewundernden Blicke und gewann auf der Stelle Fassung und Selbstbewusstsein zurück. Strahlend zwitscherte sie ihren Dank und versicherte mit honigsüßem Lächeln, dass ihr nichts passiert sei. Dann bat sie ihrerseits um Verzeihung, da immerhin sie die Angreiferin gewesen sei.
Gerne wieder!, bekam sie zur Antwort, und der Kerl grinste dazu ganz unverschämt. Ob er sonst noch etwas für sie tun könne?
Während Eva verwirrt überlegte, was in aller Welt in diesen Mann gefahren sein mochte, brachte sie eine zweideutige Antwort zustande und erntete dafür einen weiteren schamlosen Blick. Danach trennten die beiden sich widerstrebend.
Ein Lichtstrahl am Horizont. Die Männer waren doch nicht alle so übel, wie sie gedacht hatte. Eva war wild entschlossen, an ihrer neuesten Eroberung zu arbeiten. Zunächst einmal musste sie herausfinden, warum er ausgerechnet an diesem Tag so viel Interesse für sie zeigte. Schließlich sah er sie nun schon seit Monaten fast täglich, hatte aber kaum ein höfliches Guten Morgen über die Lippen gebracht.
Vielleicht hatte er ein vielversprechendes Geschäft abgeschlossen, oder eine satte Prämie erhalten? Unwahrscheinlich, dachte Eva, so früh am Morgen. Es sei denn, er hatte die Nacht durchgearbeitet und mit Amerika oder China oder Timbuktu per Telefon konferiert. Oder er hatte sich gerade erst von seiner Frau oder
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