Ballast oder Eva lernt fliegen
Freundin getrennt. Eva hängte ihren nassen Mantel außen an ihren Spint. In diesem Fall hätte sie seine gute Laune als Hinweis auf einen Charakterfehler werten müssen. Eva beschloss, dass sein Sinneswandel auf etwas anderes zurückzuführen sein musste. Vor einem Spiegel drapierte sie ihr Tuch neu und ordnete ihr feuchtes Haar so gut es ging. Kritisch inspizierte sie ihr gerötetes Gesicht. Sie sah nicht eben damenhaft aus, doch ihre Augen leuchteten, und wenn man Sommersprossen mochte und sich nicht daran störte, dass das Rot ihrer Wangen sich mit dem ihrer Haare biss... Vielleicht lag hier der Schlüssel. Der Typ mochte es eher wild. Die Sorte Mann, die auf Aktivurlaub und verschwitzte Frauen stand.
Ihre Arbeit am Empfang hinderte Eva an der Weiterverfolgung dieses Gedankens und der Möglichkeiten, die er eröffnete. Bald sank ihre Stimmung unaufhaltsam dem Tiefstpunkt zu, da alle Welt sie anzustarren schien. Nur Fremde schienen sich an ihrem Äußeren nicht zu stoßen, doch die Betriebsangehörigen glotzten ganz hemmungslos und mit offenen Mündern. Es war niederschmetternd.
Nach zwei Stunden war für Eva klar, dass sie so den Tag nicht überstehen würde. Sie beschloss, die Mittagspause zu nutzen, um sich das wichtigste Material für eine notdürftige Instandsetzung zu besorgen. Ihre Verzweiflung erreichte kurz vor der herbeigesehnten Pause ihren Höhepunkt, als Bernd Liebig das Foyer betrat. Ohne einen Blick in ihre Richtung strebte er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Geschäftsleitung dem Ausgang zu, wobei alle ausgelassen lachten. Als zwei der Herren kurz den Kopf wandten, um Eva neugierig anzustarren, war das Maß voll. Überzeugt, dass der Assistent sich am Morgen nur einen Spaß mit ihr geleistet hatte und ihre Freundin, die Sekretärin des Personalchefs, gerade schadenfroh eine Abmahnung wegen Verstoßes gegen die Kleiderordnung tippte, griff Eva hilf- und gedankenlos nach ihrer Handtasche, um zu tun, was sie immer tat, wenn sie verunsichert, wütend oder frustriert war. Ihre Finger glitten ganz von selbst in das Seitenfach, in dem sie ihr Make-up für unterwegs verwahrte – das wunderbarerweise die Nacht von Samstag auf Sonntag unversehrt überstanden hatte. Eva starrte verblüfft den Lippenstift in ihrer Hand an. Minuten später hastete sie mit ihrer Handtasche in Richtung Damenklo.
Das Schicksal hielt sie auf in Gestalt der Bürobotin Ariane Bäuerle. Diese scherte sich nicht um die von der Wucht des Aufpralls weit verstreuten Akten und Briefe, die sie nun ein zweites Mal würde sortieren müssen, sondern starrte Eva rundäugig an, ohne zu ahnen, dass sie damit Benzin auf einen Schwelbrand goss. Dass Eva sie nicht gnadenlos zur Schnecke machte, lag einzig und allein daran, dass Ariane schneller Luft und Sprache wieder erlangte.
Wow!, machte die, und: Große Göttin!, um gleich hernach im Brustton vollster und geradezu andächtiger Überzeugung zu erklären, dass Eva ab-so-lut umwerfend aussehe.
Das zeigte Wirkung. Schlagartig war die kampfeslustige Eva besänftigt und zog ihre schon gewetzten Krallen ein. Das sei sehr lieb, säuselte sie lammfromm, durchaus geneigt, die einleitende Anrufung in Arianes Erklärung auf sich selbst zu beziehen. Lächelnd fragte sie die Bürobotin, ob sie helfen könne, und versicherte nicht ganz wahrheitsgetreu, wie leid es ihr tue, sie so – hier machte Eva des Effekts wegen eine kleine Pause – umgeworfen zu haben. Mit diesen Worten sank sie anmutig in die Knie und begann, die verstreuten Akten einzusammeln. Neben ihr hockte sich Ariane auf die Fersen, wodurch ihr ohnehin scheußlicher Rock in sehr unvorteilhafter Weise nach oben rutschte. Eva übersah großmütig die Laufmasche an Arianes Oberschenkel und sonnte sich in der Bewunderung der jüngeren Frau. Die raffte achtlos Grafiken, Bewerbungen, Auftrags-bestätigungen und Kündigungen zusammen, während sie atemlos plapperte. Das Kleid stehe Eva total fantastisch! Und ohne die ganze Schmotze im Gesicht (Eva zuckte) sehe sie ja noch viel besser aus! Und: Im Ernst, dieses Zeug kleistere doch die ganze natürliche Ausstrahlung zu, ob Eva das nicht auch fände? Und wie genial es sei, dass ausgerechnet sie , Eva, gegen diesen blödsinnigen Dresscode... – an dieser Stelle unterbrach die Bürobotin ihre emphatische Rede, weil sie Evas verschiedenfarbene Augen entdeckt hatte, was sie zu neuen Begeisterungsausbrüchen hinriss.
Schnell senkte Eva ihren Blick zu Boden und gab vor, dort nach weiteren Papieren
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