Ballnacht in Colston Hall
eigentlich überhaupt nicht mit ihm reden sollte. Doch da sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder begegnen würden, musste sie deshalb wohl nicht gar so sehr auf Anstand bedacht sein. Ja, sie fand es sogar vergnüglich, seine Vermutungen noch ein wenig anzureizen. Vor der Bibliothek blieb sie stehen. “Da sind wir schon. Ich habe Euch ja gesagt, dass es nur ein kurzer Weg ist. Ich bedanke mich für Eure Begleitung, Sir.”
Der Fremde machte eine Verbeugung, was mit einem aufgespannten Schirm in der Hand ein so komischer Anblick war, dass Lydia lachen musste. “Ihr solltet immer lachen”, sagte der junge Mann bewundernd. “Wenn Ihr lacht, leuchten Eure Augen und werden ganz lebendig.”
“Sir, Ihr seid ein wenig zu keck.”
“Ach ja, das ist ein alter Fehler von mir.” Der Fremde seufzte. “Aber muss man nicht die Gelegenheiten ergreifen, die sich einem bieten? Den Stier bei den Hörnern packen, heißt es doch. Werden wir uns wiedersehen?”
“Das, Sir, liegt in der Hand der Vorsehung.”
“Nun, dann hoffe ich, dass die Vorsehung mir geneigt ist.”
Lächelnd blickte Lydia dem jungen Mann nach, bis sie nur noch den auf und ab tanzenden Regenschirm am Ende der Straße sah. Wahrscheinlich war es das letzte Bild von ihm, das ihr bleiben würde, denn sie kam nur selten nach Chelmsford, und es wäre ein zu großer Zufall, wenn sie ihm dann auch wieder begegnete.
Er sah so gut aus und war offensichtlich vermögend, dabei ohne übertriebene Vornehmheit und auch nicht zu selbstbewusst – also genau der Mann, nach dem sie als Ehemann Ausschau halten sollte, wenn sie die Mutter richtig verstanden hatte. Aber schließlich las man Ehemänner nicht in einer regennassen Straße auf, nicht wahr? Und außerdem wusste sie ja überhaupt nichts von ihm. Er konnte verheiratet sein oder übel beleumundet. Und selbst wenn dies nicht der Fall war, so dachte er doch sicherlich nicht daran, sie zu ehelichen. Auch vernünftige Männer entdeckten ihre Ehefrauen nicht auf der Straße. Liebschaften vielleicht. Hoffentlich hielt er sie nicht für eine solche Person. Aber er hatte ja Mylady zu ihr gesagt. Sicher sollte es ein Scherz sein. Nur gut, dass sie ihren Namen nicht preisgegeben hatte.
Als Lydia die Bibliothek betrat, war die Mutter wider Erwarten nirgends zu erblicken, und so stöberte sie in der nächsten halben Stunde in den Neuerscheinungen des Büchermarktes herum. Wie gern hätte sie dieses oder jenes Buch erworben, doch solche unnötigen Ausgaben konnten sie sich jetzt leider nicht mehr leisten.
“Ach, da bist du ja”, ertönte endlich die Stimme der Mutter hinter ihr. “Entschuldige, dass ich mich verspätet habe, aber ich habe das Ende des Regens abgewartet. Bist du nass geworden?”
“Nein, nein, ich habe mich in einem Torbogen untergestellt.” Lydia konnte sich selbst nicht erklären, warum sie den jungen Mann mit dem Regenschirm nicht erwähnte. Vielleicht war sie entschlossen, ihn und seine merkwürdige Anziehungskraft so schnell wie möglich zu vergessen. Sie hatten nur wenige Minuten miteinander verbracht, und dennoch war eine Leere in ihr zurückgeblieben wie ein unerfülltes Versprechen – ein Sonnenstrahl mitten im Regen. Plötzlich fühlte sich Lydia traurig und sehr einsam.
Schweigend ging sie neben der Mutter zu dem kleinen Platz, wo ihr einziger Diener, der grauhaarige Joshua Partridge, mit der altersschwachen Kutsche wartete. Und als sie dann durch die belebten Straßen der kleinen Stadt heimwärts ratterten, ertappte sie sich dabei, wie sie nach einem tanzenden Regenschirm Ausschau hielt. Aber er war nirgends zu sehen. Er war verschwunden, als habe es ihn nie gegeben.
Ralph Latimer, der vierte Earl of Blackwater, kehrte zu seiner Kutsche zurück, die er auf dem Hof einer Herberge am Rande der Stadt zurückgelassen hatte, stieg in Gedanken versunken ein und befahl dann dem Kutscher, ihn auf dem kürzesten Wege nach Hause zu fahren, nach Colston Hall. Nach Hause! Wie oft hatte er in der Hitze und dem roten Staub Indiens davon geträumt, in das kühle England zurückkehren zu können, wieder in den Kreis der Familie aufgenommen zu werden und an der Seite des Vaters zu lernen, wie man den großen Landbesitz sinnvoll verwaltete und die Wohlfahrt der Dörfler sicherte, und zu jagen, zu angeln und zu segeln wie früher als Junge.
Bei der Erinnerung an seine Knabenzeit fiel ihm zwangsläufig Freddie Fostyn ein. Sie waren damals unzertrennlich gewesen, hatten im Herrenhaus gemeinsam
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