Ballnacht in Colston Hall
zusammenzufantasieren. Aber wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in dem war, was sie erzählt hatte, reichte es vielleicht doch aus, um wieder hoffen zu dürfen? Vorausgesetzt natürlich, dass man mit Thomas Ballard fertig würde. Bei diesem Gedanken wurde Ralphs Ungeduld nahezu unerträglich.
Gegen zwei Uhr am Morgen fuhr die Kutsche endlich vor dem Witwensitz vor. Annabelle war trotz aller Aufregung eingeschlafen und dabei gegen Ralphs Schulter gesunken.
Kein Fenster des Hauses war erhellt und die Gartentür geschlossen. Beunruhigt musterte Ralph die dunkle Gebäudefront. Wenn es auch sehr spät geworden war, so hatte er doch erwartet, dass entweder Mrs Fostyn oder Lydia noch nicht zu Bett gegangen waren, sondern auf seine Rückkehr warteten. Er stieg aus, ging zur Tür und schlug den Türklopfer kräftig dagegen. Als sich nichts rührte, drückte er auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen.
“Vielleicht wollen sie nicht gestört werden”, flüsterte Annabelle, die ihm schlaftrunken gefolgt war und nun auf Zehenspitzen die Eingangshalle betrat. “Ich kann ja rasch ins Bett gehen und ihnen morgen alles erzählen.”
“Nein, nein, ich kann Euch nicht einfach auf der Schwelle absetzen wie einen Sack Kartoffeln. Geht und weckt Eure Schwester.”
Annabelle zündete eine Kerze an und stieg leise die Treppe empor. Ralph blickte ihr nach, während sein Herz in freudiger Erwartung klopfte. Bald würde er seine Liebste wiedersehen und endlich die ganze Wahrheit von ihr fordern. Und danach würde er sich mit Thomas Ballard befassen.
Doch er hatte diesen Gedanken noch kaum zu Ende gebracht, als Annabelle atemlos die Treppe wieder hinuntereilte. “Lydia ist nicht da!”, rief sie aufgeregt. “Und ihr Bett ist überhaupt nicht berührt. Sie muss die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen sein!”
“Großer Gott, sie hat doch nicht etwa …” Ralph zwang sich zur Ruhe. “Geht und weckt Eure Mutter – aber vorsichtig, trotz allem. Sagt ihr, dass Ihr wieder daheim seid, und dann versucht zu schlafen – beide. Kein Wort darüber, dass Lydia nicht daheim ist. Wenn Eure Mutter nach ihr fragt, dann erklärt ihr, dass Eure Schwester schläft und ihr sie nicht stören wollt. Ich werde mit ihr zurück sein, bevor man sie vermisst.”
Er wandte sich um, stieg wieder in den Wagen und wies den Kutscher an, nach Colston Hall zu fahren. Törichte, törichte Lydia, dachte er unaufhörlich. Warum nur war sie so besessen darauf, die Schmuggler zu beobachten? Wusste sie vielleicht etwas, das ihm unbekannt war? Oh, wenn er es doch aus ihr hätte herausholen können! Aber nein, sie setzte lieber ihr Leben aufs Spiel, obwohl er sie mehrfach vor den Gefahren gewarnt hatte. Anscheinend hatte sie ihm überhaupt nicht zugehört.
In die Stille hinein schlug die Uhr der Dorfkirche die dritte Stunde. Eigentlich müssten um diese Zeit die Schmuggler ihre nächtliche Arbeit längst abgeschlossen haben. Warum war Lydia dann nicht nach Hause gekommen? Wenn sie nun entdeckt worden war? Was hatten sie ihr angetan? Gewöhnliche Schmuggler hätten sie mit fürchterlichen Drohungen eingeschüchtert und dann fortgeschickt. Aber diese … Waren sie denn überhaupt gewöhnliche Schmuggler? Und wusste Lydia vielleicht gar, dass Sir Arthur in Wirklichkeit Thomas Ballard war?
Als die Kutsche vor dem Eingangstor hielt, sprang Ralph heraus, noch ehe die Räder zum Stillstand gekommen waren, lief in sein Zimmer und legte seine ältesten dunklen Kleider an. Dann steckte er noch eine geladene Pistole in den Gürtel und machte sich eilends auf den Weg zu der Waldlichtung. Es gab für ihn keinen Zweifel, dass die alte Hütte das Ziel von Lydia gewesen war. Der Morgen würde bald heraufdämmern, und die Schmuggler vermieden es im Allgemeinen, bei Tageslicht noch im Freien zu sein.
Als er den Rand der Lichtung erreicht hatte, blieb er stehen. Trotz des Zwanges zur Eile galt es, sich so geräuschlos wie möglich der Hütte zu nähern. Vorsichtig kroch er durch dichtes Farnkraut und spähte in jedes Gebüsch, bereit, notfalls sein Leben zu verteidigen. Schließlich lichtete sich das Unterholz, und nun entdeckte er auch Lydia. Ja, das war sie. Wieder als Mann gekleidet, stand sie neben der Tür und sprach mit einem breitschultrigen Mann. Jede Bewegung, ja, selbst die Art, den Kopf zu halten, war jungenhaft, so als hätte sie große Mühe auf die Einstudierung dieser Rolle verwandt.
Sie drehte ihm den Rücken zu, sodass er ihr Gesicht nicht sehen und dadurch
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