Balthazar: Roman (German Edition)
Affäre mit Harry Potter gehabt hätte. Der echte Balthazar – der, den sie liebte – war eine völlig andere Person. »Er hat nie irgendetwas getan, das sich nicht gehört hätte. Er hat mir einfach nur zugehört, als ich über verschiedene Dinge sprechen wollte. Über … Dakota zum Beispiel.«
Zum ersten Mal seit dem Tag nach der Beerdigung hatte sie ihren Eltern gegenüber seinen Namen in den Mund genommen. Ihre Gesichter versteinerten einen Moment lang, als ob es nicht geschehen dürfe, dass irgendein Gefühl je an die Oberfläche drang. Skye hatte Mitleid mit ihnen, als sie das sah, aber sie wollte jetzt nicht zurückstecken. Dieses Mal nicht. Es wurde Zeit, dass sie darüber sprachen. Wie dankbar würden ihre Eltern sein, wenn sie erfahren würden, dass sie mit Dakota Kontakt gehabt hatte.
»Seine Schwester starb, als sie ungefähr in meinem Alter war«, fuhr sie fort. »Deshalb konnte er mich wegen Dakota so gut verstehen. Er wusste, wie es ist, wenn man versucht, die Person, die man geliebt hat, zu verdrängen, es aber nicht schafft. Dabei muss man geliebte Verstorbene festhalten und sich immer daran erinnern, wie viel sie einem im Leben bedeutet haben. Denn man verliert jemanden nicht, wenn er stirbt. Man verliert ihn nur, wenn man vergisst, wie sehr man sich geliebt hat.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, ehe ihr Vater die Bügel seiner Brille zusammenklappte und sie ins Etui steckte. »Es ist eine Erleichterung zu hören, dass nichts Schwerwiegendes passiert ist«, sagte er. »Wir haben immer gewusst, dass du viel zu vernünftig bist, als dass du dich auf irgendetwas Ungehöriges einlassen würdest.«
»Ich habe dir doch gleich gesagt, wir hätten in Albany bleiben sollen«, sagte Skyes Mutter an ihren Mann gewandt. Der aber zuckte nur die Achseln, als wollte er sagen: Punkt für dich .
Und das war’s. Sie gingen mit keinem Wort darauf ein, dass sie etwas über Dakota gesagt hatte. Sie bereuten lediglich, dass sie ihretwegen nach Hause gekommen waren.
»Dad. Mom. Nun kommt schon.« Skye war sich sicher, dass sie irgendwie zu ihnen würde durchdringen können. Okay, es würde ein bisschen Arbeit erfordern. Sie konnte nicht erwarten, dass die beiden sich von jetzt auf gleich veränderten. »Wollen wir denn nie wieder über Dakota sprechen?«
Ihre Mutter fuhr sie an: »Niemand hat deinen Bruder vergessen, Skye. Aber wir alle kommen auf unsere eigene Weise damit klar. Wir haben versucht, deine Trauer zu respektieren, aber auch du musst uns unsere lassen.«
Wann hatten sie denn je versucht, ihre Trauer zu respektieren? Wann hatten sie je etwas anderes getan, als zu erwarten, dass Skye die Dinge auf die gleiche Art regelte, wie sie es taten – nämlich, indem sie Dakota in die Dunkelheit der Vergangenheit verbannten?
Dutzende Bilder des vergangenen Jahres blitzten in Skyes Kopf auf, und sie erschienen jetzt in einem anderen Licht als früher. Jetzt konnte sie sie endlich in aller Schärfe sehen: Ihr Vater, der den Blick von den Fotos ihres Bruders in ihrem Zimmer abgewandt hatte – und auch von Skye selbst –, bis er sie eines Tages aufgegeben und sie in einer Schublade verstaut hatte, wo er sie nicht mehr sehen musste. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter und ihr Vater seit dem Nachmittag nach der Beerdigung wie bisher weitergemacht hatten und wie schlecht sich Skye gefühlt hatte, wenn sie weinte, wo ihre Eltern doch so »tapfer« waren. Wie sie von ihr erwartet hatten, dass sie von diesem Tag an für sich selber sorgte, und wie sie sie Tag und Nacht alleingelassen hatten, um sich in ihrer Arbeit zu vergraben. Wie Skye selber diesen absurden Anspruch akzeptiert hatte, weil sie dachte, dass sie ihnen damit helfen konnte. Für ein oder zwei Monate wäre das vielleicht auch nicht so schlimm gewesen. Schließlich waren sie heute Nacht nach Hause gekommen; es war also nicht so, dass sie sie nicht liebten. Skye wusste, dass sie das taten.
Aber jetzt, jetzt begriff sie, dass sich ihre Eltern so tief darin verstrickt hatten, so zu tun, als wenn alles normal wäre, dass sie niemals wieder herausfinden würden. Und sie erwarteten, dass Skye, genau wie sie selber, für alle Zeit den Tod Dakotas verleugnen würde, auch wenn das bedeutete, sein Leben ebenfalls zu verleugnen.
Skye erhob sich langsam von der Couch. Ihre Eltern blickten nicht hoch; Mom hatte bereits wieder ihr Telefon in der Hand. Skye sagte: »Ich hatte einen langen Tag«, was eine geschönte Version dessen war, was hinter ihr
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