Banalverkehr - Roman
aus, ich schätze, hätte ich diesen Lutz vor einem guten Jahr im Club getroffen, hätte er mir tatsächlich einen Wodka spendieren dürfen.
»Wie geht’s dir denn so?«, frage ich trotzdem.
»Gut«, kommt es wenig überraschend, und er erzählt, dass er jetzt bei einem Cateringunternehmen arbeitet, was ihm viel Spaß macht. Und er hat sich eine Harley gekauft. Er kann noch nicht so gut fahren und fällt in den Kurven manchmal um, plumps, aber das macht nichts. Er fährt nämlich selten schneller als Schrittgeschwindigkeit. »Ich werd’s lernen, und dann fahre ich im Sommer irgendeine Küste entlang.«
»Das ist toll. Und hier bist du, weil du gucken willst, wo man landet, wenn man zu schnell um die Kurven fährt«, mutmaße ich.
»Nein, ich bin einfach gerne auf Friedhöfen. Schon als Kind, aber die Geschichte kennst du ja«, lacht er.
»Ach ja, richtig. Man weiß nie, was man hier findet.«
»Genau. Heute habe ich dich gefunden. Ist doch auch schön.«
Wir gehen ein Stück, und Lutz zeigt mir seinen Lieblingsgrabstein. Ein kleiner, steinerner Engel mit Moos auf dem Kopf. Unter dem Engel liegt ein Junge, der 1925 gestorben ist. Er hieß Jakob und war gerade mal sechs. Noch ein Fall von zu kurz . Lutz hat als Stammgast natürlich auch eine Lieblingsbank. Sie steht unter einem dicken, alten Baum mit schwermütig herabhängenden Ästen.
»Wann glaubst ’n du, ist der richtige Zeitpunkt zum Sterben?«, frage ich, nachdem wir uns dort hingesetzt haben.
»Ich schätze, wenn man erlebt hat, was man erleben sollte.«
»Aber das klingt ja fast so, als ginge es nur darum, einen Job zu erfüllen. Und dann hätte Jakob einen besseren Job gemacht als meine Oma zum Beispiel.«
»Na ja, jeder kriegt halt einen anderen Job. Und Jakob sollte vielleicht erleben, wie es ist, mit sechs zu sterben.«
»Scheißjob.«
Lutz lacht. »Ist alles relativ. Ich meine, das ganze Leben dreht sich um Verlust. Erst verlierst du dein warmes Zuhause in deiner Mutter, später deine beste Freundin, deinen Partner, Jobs, deine Haare, deine Zähne, deine Träume und irgendwann dein Leben.«
»Ich sag’s ja: Scheiße ist das!«, rufe ich empört.
»Man muss das Leben eben annehmen, wie es kommt, und Verlust ist ja manchmal auch was Gutes. Zum Beispiel, wenn du deinen Freund verlierst und einen besseren findest.« Ich überlege kurz und bin dann fast beeindruckt: Lutz erklärt die Welt. Man sollte eine Fernsehsendung daraus machen, dann müssten nicht so viele Horrorfilme laufen.
»Und, wie geht es dir sonst so?«, fragt er nach einer Weile.
»Gut«, sage ich. Schließlich geht es mir gut. »Es geht mir wirklich gut«, sage ich nochmal, als müsste ich mir das selbst bestätigen.
»Ich hoffe, er weiß, dass er die tollste Frau der Welt abbekommen hat.« Es geht um Edo. Lutz weigert sich seinen Namen auszusprechen.
»Ja.« Keine Ahnung, ob das »ja, weiß er« heißt oder »ja, hoffe ich auch«. Einfach nur »ja«. Das passt immer. Abgesehen von den Fällen, in denen ein »nein« angebracht wäre natürlich. Haha. Hahaha.
»Weißt du, Puppe, trotz allem muss ich sagen, dass die paar Wochen mit dir die schönste Zeit überhaupt waren.«
»Was?«
»Ich weiß, das klingt komisch, aber du hast mich irgendwie erwachsener gemacht. So viel wie mit dir hätte ich sonst in zwanzig Jahren nicht erlebt. Und ich glaube, wir hätten echt glücklich werden können.« Ich sage nichts. Schweigen ist gut. Gutes Schweigen. Und einfach freundlich lächeln. »Aber weißt du, was ich nie verstehen werde?«
Schweigen. Lächeln.
»Dass du dich, nach allem, was passiert ist, sofort auf diesen Typen gestürzt hast und schwanger werden konntest. Wie ist das möglich? Hat es dir denn gar nichts bedeutet, was passiert ist?«
Scha-weigen. Lä-hecheln.
»Und, Puppe, ich frage gar nicht, ob ich dir was bedeutet habe. Ich weiß ja mittlerweile, dass es nicht genug war. Aber diese krasse Erfahrung, mit Erbse und so.«
Das war ja klar. Lutz wird immer die Person in meinem Leben bleiben, von der ich lieber eine Ohrfeige will, als seine Fragen beantworten müssen.
»Lutz«, schnaufe ich wie ein Walross. Es hätte eigentlich ein Seufzer werden sollen, aber ich bin so fett, dass ich meine Atmung schon unter normalen, nicht-theatralischen Umständen kaum unter Kontrolle habe. »Ich weiß, dass, was ich mache, sage oder denke für viele Menschen unverständlich ist. Für mich übrigens auch. Aber ich arbeite dran.« Ich schaue ihn an, aber sein Blick sagt, dass er
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