Band 6 - Blutnacht
Ich fand sie am Ende des Flurs, der zum Rest der Kirche führte. In einer Hand trug sie eine Platte mit Crackern und eingelegten Heringen, in der anderen zwei Flaschen Wasser.
»Ich werde ihn nicht beschädigen«, sagte ich und setzte mich in den Schneidersitz, weil die einzige andere Möglichkeit zu sitzen ihr genau gegenüber war. Es war einfacher, Abstand zu halten, als mit dem ansteigenden Druck umzugehen, der dadurch entstand, dass Ivy ihre Zähne in mir vergraben wol te und ich wol te, dass sie es tat, obwohl wir beide wussten, dass das eine schlechte Idee war.
Wir hatten es einmal versucht, und es war schiefgegangen, aber ich hing der Theorie an, dass man nach einem Sturz wieder aufs Pferd steigen musste - selbst, wenn man es eigentlich besser wusste.
Fast ohne dass ich es wol te, hob ich meine Finger an den Hals und die fast unsichtbaren Narben, die dort auf meiner ansonsten makel osen Haut zu sehen waren. Als sie meine Hand dort sah, ließ sich Ivy elegant in einen Stuhl sinken. Sie schüttelte den Kopf in meine Richtung und brachte damit die goldenen Spitzen ihrer kurzen, sünden-schwarzen Haare zum Aufblitzen. Gleichzeitig runzelte sie die Stirn.
Ich zog meine Hand nach unten und tat so, als würde ich etwas auf dem Klemmbrett auf meinem Schoß lesen. Trotz ihrer Grimasse erschien Ivy entspannt, als sie sich auf dem schwarzen Leder niederließ, angenehm ausgepowert von ihrem Training an diesem Nachmittag.
Sie trug einen langen, grauen, formlosen Pul i über ihrer engen Trainingskleidung, aber auch das konnte ihre athletische, durchtrainierte Figur nicht verstecken. Ihr ovales Gesicht glühte noch ein wenig von der Anstrengung, und ich konnte ihre braunen Augen auf mir fühlen, während sie damit kämpfte, die Blutlust zu unterdrücken, die von meiner Erschrockenheit ausgelöst worden war, als sie mich überrascht hatte.
Ivy war ein lebender Vampir, die letzte lebende Erbin der Tamwood-Ländereien, bewundert von ihren lebenden Genossen und von den Untoten beneidet. Wie al e hochkastigen lebenden Vampire hatte sie ein gutes Maß der Stärke der Untoten, aber keine ihrer Schwächen wie die Empfindlichkeit gegen Licht oder die Unfähigkeit, heiligen Boden zu betreten oder geweihte Gegenstände zu berühren
- sie lebte in einer Kirche, um ihre untote Mutter zu ärgern.
Als Vampir gezeugt, würde sie augenblicklich untot werden, fal s sie ohne körperlichen Schaden starb, den der Vampirvirus erst reparieren musste. Nur die niedrigkastigen Vampire oder Ghouls brauchten noch weitere Aufmerksamkeit, um die Verwandlung von lebend zu untot zu bewältigen.
Ausgelöst von Geruch und Pheromonen tanzten wir ein ständiges Bal ett von Lust und Vernunft, Verlangen und Wil enskraft. Aber ich brauchte den Schutz vor den Untoten, die meine nicht geprägte Narbe ausnutzen würden, und sie brauchte jemanden, der nicht hinter ihrem Blut her war und die Wil enskraft hatte, nein zu der Ekstase zu sagen, die ein Vampirbiss auslösen konnte. Außerdem waren wir befreundet. Wir waren es, seitdem wir bei der I.S.
zusammengearbeitet hatten, ein erfahrener Runner, der einem Neuling etwas beibrachte. Ich, naja, war der Neuling gewesen.
Ivys Blutdurst war absolut real, aber zumindest brauchte sie kein Blut zum Überleben, wie es bei den Untoten der Fal war. Ich war damit im Reinen, dass sie ihr Bedürfnis an jedem stil te, den sie wol te, nachdem Piscary sie so krank geprägt hatte, dass sie Liebe nicht von Blut oder Sex trennen konnte.
Ivy war bi, also war es für sie keine große Sache. Ich war hetero - zumindest das letzte Mal, als ich darüber nachgedacht hatte. Aber nachdem ich einen Vorgeschmack darauf bekommen hatte, wie fantastisch sich das Teilen von Blut anfühlte, war al es doppelt verwirrend.
Es hatte ein Jahr gebraucht, bis ich mir schließlich eingestanden hatte, dass ich Ivy nicht nur respektierte, sondern auch liebte - irgendwie. Aber ich würde nicht mit ihr schlafen, nur damit sie ihre Zähne in mich versenkte, außer ich fühlte mich wirklich zu ihr hingezogen und nicht nur zu der Art und Weise, wie sie mein Blut zum Brennen bringen konnte.
Ich sehnte mich danach, die Leere zu fül en, die Piscary Jahr um Jahr, Biss um Biss in ihrer Seele geschaffen hatte.
Unsere Beziehung war ziemlich kompliziert geworden.
Entweder musste ich mit ihr schlafen, damit wir sicher Blut teilen konnte, oder wir konnten versuchen, es nur als Bluttausch stattfinden zu lassen und damit das Risiko eingehen, dass sie die Kontrol e
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