Band 6 - Blutnacht
wichtig gewesen war. Er war mein Freund gewesen, aber vorher hatte er einmal mit Ivy zusammengelebt und war immer ihr Vertrauter gewesen, viel eicht die einzige Person, die wirklich verstand, durch was für eine kranke Höl e ihr Meistervampir, Piscary, sie unter dem Vorwand dessen, was er Liebe nannte, geführt hatte.
In den drei Monaten, seitdem Ivys ehemalige Freundin Skimmer Piscary getötet und selbst unter der Anklage der ungerechtfertigten Tötung im Gefängnis gelandet war, hatte sich al es radikal verändert. Statt des erwarteten Revierkrieges, in dem Cincys zweitplatzierte Vampire darum gekämpft hätten, Herrscher zu werden, hatte ein von außerhalb des Staates kommender neuer Meistervampir das entstandene Vakuum gefül t; ein Meistervampir, der so charismatisch war, dass niemand ihn herausgefordert hatte.
So hatte ich gelernt, dass öfter neues Blut gerufen wurde, und dass es in Cincinnatis Charta Vorkehrungen für ein plötzliches Machtvakuum gab.
Es war al erdings höchst ungewöhnlich, dass der neue Meistervampir jeden einzelnen der von Piscary zurückgelassenen Vampire übernommen hatte, statt seine eigene Camaril a mitzubringen.
Diese kleine Geste der Freundlichkeit stoppte ein zu erwartendes Vampirelend, das mich und meine Mitbewohnerin in ernste Gefahr gebracht hätte. Und Ivys Akzeptanz der Situation hatte wahrscheinlich viel damit zu tun, dass der neue Vampir Rynn Cormel war; der Mann, der während des Wandels das Land regiert hatte. Normalerweise musste man sich ihren Respekt langsam verdienen, aber es war schwer, jemanden nicht zu bewundern, der ein Vampir-Datingbuch geschrieben hatte, das sich wahrscheinlich öfter verkauft hatte als die Bibel, und der dazu auch noch Präsident gewesen war.
Ich musste den Mann erst noch treffen, aber Ivy hatte erzählt, dass er ruhig und eher steif war, und dass sie es genoss, ihn besser kennenzulernen. Wenn er ihr Meistervampir war, würden sie früher oder später Blut teilen.
Ich nahm nicht an, dass es schon passiert war, aber Ivy war bei solchen Dingen sehr zurückhaltend, trotz ihres wohlverdienten Rufes. Ich nahm an, dass ich glücklich sein sol te, dass er Ivy nicht zu seinem Nachkommen erwählt und mir damit das Leben zur Höl e gemacht hatte. Rynn hatte seinen eigenen Nachkommen mitgebracht. Die junge Frau war so ungefähr der einzige Vampir, den er aus Washington mitgebracht hatte.
Also hatte Ivy nach Kistens Tod einen neuen Meistervampir bekommen, und ich einen Bil ardtisch. Ich hatte gewusst, dass eine blutkeusche Hexe und ein lebender Vampir es auf lange Sicht niemals schaffen konnten. Trotzdem hatte ich ihn geliebt, und an dem Tag, an dem ich endlich herausfand, an wen Piscary Kisten wie eine Dankeskarte verschenkt hatte, würde ich meine Pflöcke schärfen und demjenigen einen Besuch abstatten.
Ivy arbeitete daran, aber Piscarys Herrschaft über sie war in den letzten Tagen seines Lebens so stark gewesen, dass sie sich nicht an viel erinnern konnte. Doch zumindest glaubte sie jetzt nicht mehr, dass sie selbst Kisten in blinder, eifersüchtiger Raserei getötet hatte.
Ich schob mich auf den Rand des Bil ardtisches. Der Geruch von vampirischem Räucherwerk und altem Zigarettenrauch, der von dem grünen Filz aufstieg, war wie Balsam für meine Seele. Er vermischte sich mit dem Geruch von Tomatenmark und dem melancholischen Jazz, der aus dem hinteren Teil der Kirche wehte, und ließ meine Gedanken an die frühen Morgenstunden zurückwandern, die ich im Loft von Kistens Tanzclub damit verbracht hatte, ein paar Kugeln zu stoßen, während ich darauf wartete, dass er mit dem Schlussdienst fertig wurde.
Als sich ein Kloß in meiner Kehle bildete, schloss ich die Augen, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um die Schienbeine. Die Hitze von der Tiffany-Lampe, die Ivy über dem Tisch aufgehängt hatte, brannte mir auf den Kopf.
Meine Augen drohten überzulaufen und ich schob den Schmerz von mir. Ich vermisste Kisten. Sein Lächeln, seine solide Gegenwart, einfach bei ihm zu sein.
Ich brauchte keinen Mann, um mich gut zu fühlen, aber die geteilten Gefühle zweier Personen waren es wert, dafür zu leiden. Viel eicht war es Zeit, nicht mehr jedes Mal Nein zu sagen, wenn jemand mich um ein Date bat. Es war drei Monate her. Hat Kisten dir so wenig bedeutet?, erklang sofort eine anklagende Stimme in meinem Kopf und ich hielt die Luft an.
»Runter vom Filz«, durchschnitt Ivys Stimme meine wirbelnden Gefühle, und ich riss die Augen auf.
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