Bangkok Tattoo
von illegalen Zuleitungen zu den illegalen, unsere Hauswände wie Efeu überwuchernden Kabeln stammt, aber die meisten verwenden zischende Gasbeleuchtung. Ich entdecke viele schöne, vertraute Gesichter in diesem Chiaroscuro. Die Mädchen haben nach der Arbeit einen Bärenhunger. Zwischen den Garküchen ist die Minimalausrüstung der Weissager aufgebaut: ein Tisch und zwei Stühle bei den wohlhabenderen, ein Tuch auf dem Boden beim Rest.
Jedes Aufdecken der Tarotkarten bricht ein Frauenherz oder bringt es zum Jubeln: Ehe, Gesundheit, Geld, Kinder, eine Auslandsreise mit einem vielversprechenden farang? Seit meiner Kindheit hat sich nichts verändert. Die festliche Atmosphäre verstärkt sich durch den traurigen Thai-Gesang eines Blinden, der, die eine Hand ums Mikrophon, die andere auf der Schulter seines Begleiters mit einem Verstärker auf dem Rücken, die Straße entlangmarschiert. Ich werfe einen Hundert-Baht-Schein in seine Sammelbüchse, und beim Gedanken an Chanya, die jetzt Glück gebrauchen kann, noch einmal einen Tausender.
Alle kennen mich: »Sonchai, wie gehen die Geschäfte?«
»Hallo, Sonchai, hast du Arbeit für mich?«
»Papa Sonchai, mein geliebter Papasan« – in freundlich-spöttischem Ton.
»Wann tanzt du wieder für uns, Detective?«
Ich bin sehr froh, daß Vikorn Chanya vor der undifferenzierten Rechtssprechung Amerikas bewahrt hat, die im Fall der Auslieferung niemals ihre Jugend und Schönheit, den berufsbedingten Streß oder die Häßlichkeit ihres Opfers berücksichtigen würde. Und Nachsicht könnte sie sich auch nicht erkaufen wie in unserem flexibleren System. Vikorns Bemerkung, wir wüßten nichts über ihre Zeit in Amerika, ist ein klarer Beweis für seinen überlegenen Geist, vielleicht auch seine Paranoia, das Berufsrisiko eines jeden Gangsters seines Kalibers. Ich hingegen habe nie einen Gedanken auf ihre Zeit in Übersee verschwendet. Hat sie dort nicht in einem Massagesalon gearbeitet wie alle anderen?
Urplötzlich erlebe ich eine dramatische Verlangsamung meiner Gedanken, ein Versickern meiner Energie nach lang andauernder Anspannung. Ich bin völlig ausgepowert, kurz vor dem Umkippen, also kehre ich zum Club zurück und gehe in den ersten Stock hinauf, um mich hinzulegen. Es ist jetzt acht Minuten nach fünf, und die ersten Boten künden von der Morgendämmerung: der Ruf des Muezzin von einer nahegelegenen Moschee, Vogelgezwitscher, eine schlaflose Zikade, mattes Licht im Osten.
Wir Thais haben unser eigenes Rezept gegen emotionale Erschöpfung: nicht Tabletten, Alkohol, Drogen oder Therapie – wir hauen uns einfach in die Falle. Klingt simpel und funktioniert. Immer wieder wird in Umfragen festgestellt, daß Schlaf unser Lieblingshobby ist. (Wir wissen, daß uns auf der anderen Seite etwas Besseres erwartet als hier.)
Es stellt sich jedoch heraus, daß der Mitch-Turner-Fall mich auf einer tieferen Ebene berührt hat, denn im Schlaf besucht mich Pichai, mein toter Partner und Bruder im Geist, oder besser gesagt: Ich besuche ihn. Er sitzt in einem Kreis meditierender Mönche mit honigfarbener Aura und möchte nicht gestört werden. Als ich ihm keine Ruhe lasse, taucht er ganz langsam aus seiner göttlichen Trance auf. Hilfst du mir? frage ich ihn. Such nach Don Buri, antwortet Pichai und kehrt in die Gruppe zurück.
Ich erwache zutiefst verwirrt, denn buri ist das Thai-Wort für Zigarette. Und Don, denke ich, heißt »Herr« auf spanisch. Tja, das ist der rätselhafte Pichai, wie ich ihn kenne. Ich werde mich wohl auf konventionellere Quellen verlassen müssen. Trotzdem geht mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Wer zum Teufel ist Don Buri?
4
Als ich schließlich aufstehe, ist es früher Abend, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich Lek vernachlässige.
Lek ist mein neuer Assistent, von Vikorn höchstpersönlich zugewiesen. Er genießt seit mehr als einem Monat meine Ausbildung, eine Aufgabe, die ich ernst zu nehmen versuche. Nong jedoch sieht ihn eher als Familiensklaven und besteht darauf, daß ich ihm die Haushaltsführung beibringe. Ich bemühe mich, ein Gleichgewicht zu finden, ohne mich ihr zu widersetzen (es gibt gewisse Gründe, warum er es sich nicht mit ihr verderben darf), und weise ihn über Handy an, mich vom Club abzuholen.
Halb sieben, und die Rush-hour lähmt noch immer das Alltagsleben. Lek und ich lauschen auf dem Rücksitz des Taxis dem vom Fahrer eingestellten Sender FM97, den wir Bangkoker Rod Tit FM (Verkehrsstau FM) nennen. Im gesamten
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