Bangkok Tattoo
›Ganzkörpertätowierung‹ heißt.«
Ich reibe mir verblüfft das Kinn. »Tatsächlich?«
»Ja, der Typ hatte wirklich Supertattoos, aber er wollte keine der Frauen begleiten. Er sagte, er ist nicht käuflich, er möchte nur seine Tätowierungen herzeigen.«
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Nennen wir ihn Ishy. Eigentlich ist es nebensächlich, wie ich ihn aufspürte, aber jedenfalls klapperte ich die meisten Schwulenbars um die Suriwong Road ab, wo ich Clubinhaber, Stricher, Rausschmeißer, korrupte Bullen und Sicherheitsleute befragte. Offenbar handelte es sich bei dem stotternden Japaner mit der außergewöhnlichen Ganzkörpertätowierung um einen sporadisch Extrovertierten, der die Bars als Schaufenster für seine Kunst nutzte. Nun sitzt er hier in einem japanischen Restaurant in der Soi 39.
Schummerige Lokale wie dieses kennt man aus yakuza- Filmen: dunkel getäfelte Holznischen, warmer Sake in winzigen Steingutbehältern, Trinkgemeinschaften, in denen Brüder im Geiste flüsternd Männergeheimnisse teilen, knicksende Kellnerinnen in Rüschenschürzen (als Thailänderinnen sollten sie sich eigentlich verneigen); an diesem Ort darf man sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, aber lautes Sprechen wird mit scheelen Blicken quittiert. Ishy sitzt allein in einer Nische, vor ihm eine große Flasche des feinsten Sake aus der berühmten Destillerie Koshino Kagiro. Sein im nüchternen Zustand starkes Stottern verwandelt sich unter Alkoholeinfluß in Gesprächigkeit. Der yakuza- Traditionfolgend, fehlen ihm die letzten Glieder des kleinen Fingers an beiden Händen. Er wirkt schicksalsergeben, als ich ihm gegenüber in die Nische schlüpfe, und ordert ein zweites Platzset, um seine Bento-Box mit Sashimi, Brasse und Tempura-Garnelen mit mir teilen zu können. Außerdem bestellt er Miso-Suppe für mich, bevor er mich brummelnd anweist: »Legen Sie den Lachs auf den Reis und geben Sie Grünen Tee und ein bißchen von der Suppe drüber.«
Merkwürdigerweise ist er großgewachsen und durchaus gutaussehend, nur seine Umgangsformen scheinen durch sein Genie beeinträchtigt zu sein. Wie sollte jemand auch Small talk machen, wenn er große Epen auf der glatten Haut seines Gegenübers sieht? Als er mir anbietet, mir gratis einen großen Lachenden Buddha auf den Rücken zu tätowieren, wenn er dabei etwa dreißig Zentimeter lange tebori -Nadeln statt der im Westen üblichen Pistole verwenden darf, beginne ich seine Sprechstörung zu verstehen. Sobald wir beide betrunken genug sind, wechseln wir von der Nische zu den Hockern an der Theke.
Wenn er nicht gerade über seine Tätowierkunst redet, erzählt er fremde und sadistisch anmutende Storys von den yakitza- Gangsin Tokio und Kyoto. Und plötzlich wendet er sich seiner Lebensgeschichte zu, in der es wieder nur um horimono geht. Wie soll man einen Gangster oder einen erfolglosen Sumoringer mit einem IQ im untersten Bereich davon überzeugen, daß er sich nicht auf beiden Oberschenkeln einen häßlichen indigoblauen Dolch vom Knie bis zum Schritt machen lassen soll, sondern einen eleganten Rosenstrauch mit detailliert ausgeführten Blütenblättern? In den Städten von Ishys Japan wimmelt es von Verbrechern, denen mindestens ein kleiner Finger fehlt und bei denen er seine künstlerischen Visionen unter Lebensgefahr durchsetzt. Sein Ruhm wächst, denn in Japan haben sogar Gangster Kultur. Immer wichtigere Leute aus der Unterwelt engagieren ihn, und er ißt und trinkt in exklusiven Herrenclubs, wo fähige Geishas sich seiner sowie seiner Kunden annehmen. Manchmal bittet man ihn, die Damen mit einem eleganten Tattoo an Rücken oder Bauch zu verzieren. Der Sake hilft ihm, seine Schüchternheit zu überwinden und die yakuza- Bossedavon zu überzeugen, daß es sich bei seiner Kunst nicht um Graffiti handelt (die er verabscheut), sondern daß er in der Tradition von Hokusai, dem Meister der Tuschzeichnung und des Farbholzschnitts, steht.
Eines karmaträchtigen Abends überredet er nach dem Genuß von ziemlich viel Alkohol den großen Boß Tsukuba, seine eigenen Motivvorstellungen zugunsten einer Ansicht des verschneiten Fudschijama aufzugeben.
»Mach’s sofort«, fordert Tsukuba.
»Wohin?« fragt Ishy.
»Auf die Stirn«, ruft Tsukuba aus, dessen Wagemut bewunderndes Gemurmel erntet. Am nächsten Tag, wieder nüchtern, wird Ishy klar, daß er seine Heimat für immer verlassen muß, weil einer der einflußreichsten yakuza- Bosse ihm an den Kragen will. Als Ziele bieten sich für jemanden wie ihn Hongkong,
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