Bangkok Tattoo
Singapur, Los Angeles oder San Francisco an – er wählt keines davon, weil Tsukuba dort als erstes nach ihm suchen wird. Bangkok eignet sich mit seiner kleinen, diskreten Japanergemeinde und den zahllosen tattoohungrigen Nutten bedeutend besser. Er taucht ab und führt nur selten Aufträge bei sich zu Hause aus, die er ausschließlich von vertrauenswürdigen Kunden, hauptsächlich japanischen Geschäftsleuten, annimmt. Von Zeit zu Zeit jedoch sehnt sich der Künstler in ihm nach Anerkennung. Seine eigenen Tätowierungen hat er größtenteils selbst gefertigt; er weiß von Anfang an, daß donburi, das Ganzkörpertattoo, sein Schicksal ist. Für die Stellen, die er nicht einmal mit seinen langen tebori -Nadeln erreichen kann, fertigt er detaillierte Entwürfe für einen Lehrling, dessen Fähigkeiten er vertraut. Das Ergebnis ist ein Gesamtkunstwerk, in dem sich die Themen seines Lebens miteinander verweben wie die eines Mozart-Konzerts: der Fudschijama, ein Toshiba-Laptop, eine Geisha, sein erstes Honda-Moped, ein Teller mit Kobe-Rindfleisch, Admiral Yamamoto in Ausgehuniform, fünf betrunkene Samurai in traditioneller Rüstung, alle Stellungen des Kamasutra und so weiter und so fort. Nach einer Weile beginnt er, seinen Körper und seine Kunst in Schwulenbars zur Schau zu stellen.
Nach einer beträchtlichen Menge Sake knöpft Ishy sein Hemd auf und zieht es aus. Das donburi ist wie ein seidenes T-Shirt von erlesener Qualität, eine subtile Farbensymphonie, komponiert auf der Basis einer präzisen Pyramidenstruktur, die sich seiner Aussage nach auf Cézanne zurückbezieht. Die Thai-Kellnerinnen treten näher heran, um das Meisterwerk zu bewundern. »Zieh doch mal die Hose aus«, sagt eine zu ihm. »Wirklich nackt bist du ja nie.«
Er tut ihr den Gefallen, und da ist er, sein Schwanz, den ich nicht näher betrachte, aus Angst, mißverstanden zu werden. Die Mädchen jedoch haben da weniger Hemmungen, und eine von ihnen beginnt, sein Glied zu bearbeiten, um, wie sie erklärt, die Kunst darauf besser würdigen zu können. Erigiert offenbart sein Penis einen einzigartigen und sehr japanischen Blick auf die Schlacht vor den Midway-Inseln.
Ishy, der sich in seiner Tattoobekleidung sehr wohl zu fühlen scheint, schenkt sich noch mehr Sake ein und vertraut mir seine geheimsten Gedanken an.
»Ich war einer von denen.«
Mittlerweile weiß ich, daß seine Art der Gesprächsführung ein gerüttelt Maß an geistiger Flexibilität seitens des Zuhörers erfordert. »Ein High-Tech-Freak, ganz von Anfang an. Ich hab nie wirklich gelernt, mich mit Leuten zu unterhalten. Deswegen stottere ich auch. Seit meinem vierten Lebensjahr spiele ich mit dem Taschenrechner. Und als die ersten PCs auf den Markt kamen, wußte ich, warum ich in dieser Zeit geboren worden war. Schon bald konnte ich mein Zimmer nicht mehr verlassen. Meine Mutter hat mir das Essen vor die Tür gestellt und mein Vater Bücher dazugelegt. Einmal haben sie mich von einem Arzt untersuchen lassen. Der sagte, ich bin verrückt, für so was gibt’s keine Heilung, die Hälfte meiner Altersgenossen hat das gleiche Problem. Eines Tages schenkte mein Vater mir ein Buch mit horimono -Illustrationen und eins mit Hokusai-Holzschnitten, weil er nicht mehr ein und aus wußte.« Ishy nimmt einen Schluck Sake. »Das war wie ein religiöses Offenbarungserlebnis für mich. Ich bat meinen Vater um weitere Kunstbücher und Werke über horimono. Er hat eine ganze Bibliothek angeschleppt. Besonders Hokusai fand ich zutiefst beeindruckend. Noch heute könnte ich eine perfekte Kopie von all seinen ukiyo-e- Holzschnitten fertigen. Ich kenne jede Linie seiner Hauptwerke wie jemand anders den Text seines Lieblingslieds.«
Ishy gönnt sich einen neugierigen Blick auf eine der Bedienungen, die eine Freundin aus der Küche geholt hat und nun wieder sein Glied stimuliert.
»Es war wie die Erinnerung an ein früheres Leben. Ich erfuhr die Erregung über die ersten Holzschnitte ganz unmittelbar: eine unbeschränkte Anzahl von Drucken machen zu können – was für ein Fortschritt! Und Moronobus Erkenntnis, daß es sich bei ukiyo-e um das perfekte Medium handelt! Ich verfolgte die Entwicklung von den Ursprüngen bei Masanobu über Harunobu, Utamaro, Hiroshige bis zum unvergleichlichen Hokusai. Doch wie jeder gute Schüler nahm ich die Schwäche meines Meisters wahr. Nein, ich muß es anders ausdrücken: Jede Generation interpretiert die Realität in einer Form neu, die am besten zu ihr paßt. Wir
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