Bangkok Tattoo
Monaten wäre sie von selbst verschwunden, und Chanya hätte sich ganz automatisch an die ursprünglichen Rhythmen ihres Dorfes angepaßt, aber leider gab es in dem Dorf ein Internetcafé.
Es befand sich im chinesischen Laden einer alten Frau, die nicht nur Horoskope erstellte, Liebestränke mixte und für andere Leute die Wäsche machte, sondern sich auch ein paar PCs mit Internetanschluß angeschafft hatte. Chanya wußte, daß man bei Yahoo!, Hotmail und MSN kostenlos eine Adresse einrichten konnte, wo Mitch sie nie aufspüren würde.
Damals gestand Chanya sich das noch nicht ein, doch im nachhinein wurde ihr klar, daß Mitch trotz all seiner Probleme im Grunde ihr einziger Geliebter gewesen war. (Thanee ausgenommen, der sie als mia noi sah, nicht als Göttin.) Sie wußte nicht, ob sie Mitch ihrerseits liebte, aber seine Leidenschaft, das merkte sie jetzt, machte süchtig. Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihrem Leben etwas Wesentliches geraubt, und das war völlig neu für sie.
Ihre erste Nachricht an seine Büro-E-Mail-Adresse lautete schlicht:
Hallo, wie geht’s Dir?
Es dauerte nur wenige Minuten, bis er über seine private Adresse antwortete:
Chanya? Mein Gott, wo steckst Du? Ich werde noch wahnsinnig ohne Dich. Seit Deiner Abreise bete ich jeden Tag und gehe morgens und abends in die Kirche. Und wenn ich nicht bete, weine ich. Chanya, ich kann ohne Dich nicht leben. Ich weiß, daß mein religiöser Fimmel verrückt ist und ich letztlich nichts kapiere. In der Arbeit bin ich ein Heuchler, das ganze verdammte System hier ist Scheiße. Für mich bist Du der einzige Ausweg, das weiß ich jetzt. Ich mache alles, was Du willst, und lasse Dich tun, was Du möchtest. Arbeite weiter als Nutte, wenn Du meinst. Ich komme zu Dir nach Thailand. Wo bist Du? Ich kann einen Posten in Deinem Land kriegen. Die Geschichte mit dem Trade Center hat die Agency in Angst und Schrecken versetzt. Die Leute hier gehen jedem Hinweis nach, besonders von Asienkennern. Ich muß bloß meine Bereitschaft signalisieren, ins moslemische Grenzgebiet von Thailand zu gehen und Informationen zu sammeln … Ich könnte in spätestens einem Monat dort sein, wahrscheinlich schon früher. Alle wollen im Gefolge des elften September Punkte sammeln; da sieht es gut aus, wenn man jemanden wie mich in ein Moslemgebiet schickt. Bitte gib mir Deine Telefonnummer, Schatz.
Könnten wir uns nicht einfach weiter übers Internet unterhalten?
Du mußt mir Deine Nummer geben. Als ich meinem Chef gesagt habe, daß ich bereit bin, nach Thailand zu gehen, wäre er vor Dankbarkeit fast vor mir auf die Knie gefallen. Bitte gib mir Deine Nummer, Chanya, sonst werde ich wahnsinnig. PS: Ich habe mir gestern abend für Dich die Simpsons angeschaut. Homer ist offizielles Maskottchen des Springfield-Isotopes-Baseballteams geworden. Eine gute Episode.
Wie zu Beginn ihrer Beziehung wurde sie auf merkwürdige Weise von ihm angezogen. Vielleicht war das die »Energie«, die Amerikaner angeblich besaßen, vielleicht aber auch nur weiblicher Narzißmus – man muß sich doch geschmeichelt fühlen, wenn ein Mann so scharf auf einen ist, daß er Washington verlassen und in irgendeinem Dritte-Welt-Nest leben will, um einem nahe zu sein. Also verriet sie ihm ihre thailändische Handynummer. Danach rief er ständig an. Bevor er ihre Nummer wählte, trank er offenbar ein Glas Wein, damit sie seine dunkle, salbadernde Seite nicht mitbekam. Mit einem Schwips brachte er sie sogar telefonisch zum Kichern, und plötzlich wurden die langen, heißen, trägen Nachmittage durch ihr befreites Gelächter aufgelockert.
Ein paar Wochen später rief er sie aus einer Stadt an der malaysischen Grenze an, die sie vom Hörensagen kannte, aus Songai Kolok. Sie selbst war nie dort gewesen, aber sie wußte, daß es sich um einen Ort voller Bordelle handelte, die vor allem moslemische Männer aus dem puritanisch gesinnten Malaysia besuchten. Die Bangkoker Elite des Gewerbes verachtete die dortigen Frauen.
Chanya beendete dieses erste Gespräch aus Songai Kolok mit einem merkwürdigen Gefühl. Bis jetzt war das Ganze ein einziges Gekichere voll Witz, Leidenschaft, Energie und Optimismus, ohne jeden Hinweis auf Mitchs besitzergreifende Art, Aufdringlichkeit, Heuchelei, Intoleranz und Neigung zum Predigen. Er präsentierte ihr ein chemisch gereinigtes Bild der Vereinigten Staaten, doch sie bezweifelte, daß es ihm gelingen würde, den Schein aufrechtzuerhalten, wenn sie sich
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