Bangkok Tattoo
wiedersahen. Deshalb ließ sie sich mit ihrem ersten Besuch im Süden mehr als einen Monat Zeit und weigerte sich, ihm ihre thailändische Adresse zu verraten. Ihren Familiennamen kannte er ohnehin nicht.
Als er sie vom Busbahnhof in Songai Kolok abholte, merkte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Es war früher Morgen, und da er keinen Alkohol getrunken hatte, standen ihm die dunklen, grüblerischen Gedanken deutlich ins Gesicht geschrieben, aber da war noch etwas anderes: Er hatte abgenommen und sah krank aus. Songai Kolok tat ihm nicht gut. Schon während der Taxifahrt zu seiner Wohnung wurde klar, wie sehr er den Ort haßte. Er litt unter einem Kulturschock. Das einzige andere asiatische (und auch nichtamerikanische) Land, das er persönlich kannte, war Japan, wo er die entgegengesetzte Erfahrung gemacht hatte: Im Hinblick auf das Alltagsleben waren die Japaner den Amerikanern meilenweit voraus; sie hatten das fast Unmögliche geschafft, ihre uralte mit der hypermodernen High-Tech-Kultur in Einklang zu bringen. In Japan war alles besser als in den Vereinigten Staaten, das Essen, die Hygiene, das Nachtleben, die Frauen, die Tätowierungen – besonders die. Im Vergleich dazu wirkte Songai Kolok wie eine Dritte-Welt-Latrine.
Er deutete aus dem Fenster seiner Wohnung auf das Polizeirevier mit den zahllosen Nuttenbuden davor. »Siehst du das? Die beobachte ich jede Nacht.« Mit aggressivem Blick wiederholte er: »Jede Nacht.«
Na und? Chanya bekam eine Gänsehaut, als er ihr sein kleines Teleskop zeigte. »Sie lächeln die ganze Zeit. Es ist so verdammt … ich weiß nicht, wie.«
»Was ist los, Mitch? Wo liegt das Problem?«
Er schüttelte den Kopf. »Wie können sie das machen? Warum schmoren sie nicht in der Hölle? Es ist, als würden sie bloß schnell duschen. Sie benehmen sich wie gute Freunde, die sich gegenseitig einen Gefallen tun, Geld für sie, ein Fick für ihn. Es ist wie, wie … ich weiß nicht.«
Auf dem Weg von Surin hatte sie in Bangkok Zwischenstation gemacht, um in einem Supermarkt in der Innen-Stadt eine Flasche kalifornischen Roten, einen seiner Lieblingsweine, zu erwerben. Mit mürrischem Blick gab er ihr nun einen Korkenzieher, damit sie sie öffnen konnte. Chanya holte zwei Gläser aus der Küche, schenkte ihm großzügig ein und sah ihm beim Trinken zu, neugierig, ob der Alkohol noch immer seine Wirkung hätte. Zuerst schien es nicht so, denn er fluchte weiter über die jungen Leute, die sich Nacht für Nacht um die Hütten scharten, doch nach und nach wurde er lockerer, und ein irrer Glanz, den sie aber seiner Deprimiertheit vorzog, trat in seine Augen. Plötzlich grinste er.
Vor dem Sofa niederkniend, auf dem sie saß, fragte er: »Ich bin schon ein verdammter Heuchler, was?«
»Ja.«
»Da spiele ich den Moralapostel, und was möchte ich in Wahrheit mehr als alles andere auf der Welt?«
»Eine Thai-Nutte ficken.«
Ein schockierter Blick, dann Lachen. »Mein Gott, Chanya, was ist bloß los mit mir?«
Sie antwortete nicht: Dir fehlt der Realitätsbezug, denn offen gestanden, war sie im Augenblick selbst ziemlich geil. Das letzte Mal hatte sie vor fast fünf Monaten mit jemandem geschlafen, und an Mitchs außergewöhnliches Stehvermögen in angetrunkenem Zustand erinnerte sie sich nur zu gut. Also ließ sie sich von ihm entkleiden.
Nach seiner üblichen Glanzleistung brach er in Schluchzen aus. »Ich bin völlig durcheinander, Schatz, tut mir leid. Ich möchte dich nicht wieder quälen. Vielleicht bin ich wirklich wahnsinnig.«
Wortlos strich sie ihm übers Haar.
Das erste Mal blieb sie drei Tage und Nächte bei ihm und begann zu begreifen, was mit ihm geschah. Sein Geist durchlief die gleichen Zyklen wie in Washington, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Dort hatte die Arbeit ihn abgelenkt. Zwar verließ er das Büro auch in der Hauptstadt mit grimmigem Gesicht, aber immerhin mit dem Gefühl, etwas geschafft zu haben. In Washington besaß das Leben einen Sinn, und für einen Amerikaner gibt es nichts Wichtigeres. In Songai Kolok fehlte dieser Sinn, denn der Grund für seinen Aufenthalt hier, den er seinem Chef genannt hatte, erwies sich als nichtig, das wurde ihm schon am ersten Tag klar. Er erkannte sofort, daß dieser Ort voller Bordelle aufgrund seiner Dekadenz praktisch immun war gegen moslemischen Fanatismus. Also beobachtete er Nacht für Nacht die Hütten; das wurde sein Sinn. Die Unverfrorenheit der Akteure ließ ihn erschauern. Die Cops kamen von Zeit zu
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