Bangkok Tattoo
abberufen worden sei und zwei Monate später abreisen würde? Manchmal denkt sie, aus Boshaftigkeit – nicht ihr, sondern dem farang gegenüber. Vielleicht soll das die subtile Rache des asiatischen Diplomaten sein, dem nicht entgangen ist, daß seine Umgangsformen, sein Charme, seine Intelligenz und sein perfektes Englisch ihn nicht zu einem Gleichberechtigten der Amerikaner machen, die meinen, die Welt zu regieren. Falls es tatsächlich ein Racheakt ist, handelt es sich um einen Geniestreich des Asiaten; es lag auf der Hand, wie tief der farang fallen würde.
Mitch Turner wendet den Blick während des ganzen Essens nicht von ihr. Das wird so peinlich, daß Thanee diskret seine Verärgerung andeutet, doch Turner merkt es nicht. Chanya sieht an ihm vorbei und wechselt manchmal in der Hoffnung, den Amerikaner zu brüskieren, ziemlich unhöflich zu Thai, aber ihm scheint das nicht aufzufallen. Seine blauen Augen bohren sich in ihre Haut. Er kann nicht aufhören, sie anzustarren.
Letztlich überrascht sie das nicht. Sie ist jetzt seit fünf Monaten in Washington, den größten Teil der Zeit zusammen mit Thanee, der sich ihr gegenüber in puncto Kleidung und Kosmetika als ausgesprochen großzügig erweist. Sie trägt ein beigefarbenes Chanel-Kostüm, und ihre cremig braune Haut hat sehr von der Pflege durch teure Kosmetikerinnen profitiert, die es auch verstehen, den geheimnisvollen Glanz ihrer asiatischen Augen zu betonen, aber noch wichtiger: Ihre aufrechte Haltung überzeugt jeden, daß sie selbst eine junge Diplomatin mit bester Ausbildung ist. Ein Mädchen vom Land, das sein Berufsleben mit der Beaufsichtigung von Wasserbüffeln im Reisfeld begann, könnte doch sicher nicht so entspannt dasitzen, daß man es fast mit der Angst zu tun bekommt, oder? Von dieser Angst wird Mitch Turner ihr später erzählen, als sie sich besser kennen.
An diesem Tag rettet sie der Neo-Puritanismus. Normalerweise gestattet sich Turner eine Mittagspause von lediglich einer halben Stunde, und diese dauert nun schon siebzig Minuten. Als es ihm endlich gelingt, den Blick von ihr loszureißen, beginnt er eine kryptische Unterhaltung mit Thanee, der sie nicht folgen kann. Bald darauf muß Turner zurück ins Büro.
Thanee und Chanya signalisieren einander ihre Erleichterung so subtil, daß ein Nicht-Thai es gar nicht wahrnehmen würde, bestellen, sobald ihr Gast verschwunden ist, Champagner (natürlich trinkt Turner mittags nie und auch sonst kaum je) und beginnen, einander sicher schon zum tausendstenmal zu verführen. In Thanees Wohnung geht sie wie gewohnt ins Bad, um in den Morgenmantel zu schlüpfen, in dem sie ihn immer massiert. Als sie wieder herauskommt, sitzt er, ebenfalls im Morgenmantel, auf dem Sofa und reicht ihr ein purpurrotes Samtkästchen, in dem sich eine schwere Goldkette mit Buddhaanhänger befindet. Beim Herausnehmen sieht sie, daß die Kette ziemlich grob gearbeitet und nicht besonders hübsch ist. Sie besteht aus dreiundzwanzigkarätigem Gold und besitzt einen Wert von schätzungsweise fünftausend Dollar. Der Buddhaanhänger aus Gold und Jade ist mehr als das Doppelte wert. Die Kette steht ihr nicht; sie ist zu klobig und protzig, aber Chanya weiß, daß es darum nicht geht. Dies ist Thanees Art, für sie zu sorgen. Das Gold soll ihre Versicherung in den Vereinigten Staaten und jedem anderen Teil der Welt sein. Falls sie jemals in ernsthafte Schwierigkeiten gerät, kann sie es verkaufen oder versetzen. Mit anderen Worten: Thanee verabschiedet sich von ihr. Zum erstenmal im Leben vergießt Chanya Tränen um einen Mann. Allerdings fängt sie sich schnell wieder; nur ein leichtes Zucken um den Mund zeugt davon, wie sehr sie um Beherrschung ringt.
Er tröstet sie und schläft mit ihr, wie er es noch nie zuvor getan hat. Seine Zärtlichkeit beweist alles. Er liebt sie ebenfalls, mehr als sie je zu hoffen gewagt hat, aber keiner von ihnen ist so dumm zu glauben, daß sie sich auf irgendeine Insel verkriechen können. Die Regeln des feudalistischen Thai-Systems sind ihnen beiden eingebrannt. Er darf sie nicht mit nach Peking nehmen, weil das einen Gesichtsverlust für seine Frau bedeuten würde. Dieses letzte Fest der Lust ist das schönste Geschenk, und sie machen das Beste daraus. Er verbietet ihr, ihn zum Flughafen zu begleiten. Sie versteht diese Anweisung. Seine Berufung nach Peking hat sich herumgesprochen, und die Presse verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Der Flughafen ist nicht der richtige Ort für eine mia
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