Bank, Zsuzsa
war es der Schatten, mit dem jeder von uns lebte, vielleicht
hielt uns das zusammen. Wir konnten uns der anderen sicher sein, und es gab
lange nichts, das uns diese Zuversicht genommen hätte. So wie Aja nie an das
Schicksal glaubte und Karl nur an den Zufall, wusste ich, wir drei hatten uns
gefunden, weil wir zusammenfinden mussten, schon weil die Zumutungen, die das
Leben für uns bereithielt, so besser auszuhalten waren. Selbst wenn Aja kurz
aus meinem Blickfeld verschwand und mich das gleiche Gefühl überkam, das ich
von früher kannte, wenn sie Karl und mich vergessen hatte und lieber allein
übers Eis gelaufen war, wusste ich, wir verlieren einander nicht, schon weil
Aja jemand ist, den man an einem Tag verliert und an einem anderen wiederfindet.
Unser Dreieck blieb an seinen Spitzen geschlossen, auch wenn Aja und Karl
manchmal davonzuspringen schienen, schon weil sie immer leichter als ich ihre
Ziele verfolgten. Es war ihnen fremd, etwas zu überdenken und lieber nicht zu
tun, Aja, weil sie keine Angst kannte, und Karl, weil er nichts zu verlieren
hatte und sagte, ein Leben lang gehöre uns nichts, nur die Jahreszeit, in die
wir ohne unser Zutun geboren würden, und wir gehörten ihr. Ich habe nie daran
gezweifelt, es stimmt, Karl hat recht damit, so wie ich im Herbst geboren bin
und unbedingt zum Herbst gehöre, gehört Karl zum Winter und Aja zum Sommer, zu
keiner anderen Jahreszeit so wie zum Sommer, zu seinem weiten Himmel und seinen
leuchtend hellen Tagen, von denen wir uns wünschen, sie würden nie enden.
An einem solchen Sommertag hörte
ich auf, mich um die Gesetze meiner Mutter zu kümmern, die sie erfunden hatte,
um sich zu schützen - vor was, ich weiß es nicht, es war doch alles schon
geschehen, vor dem sie sich hätte fürchten müssen. Ich brach mein Versprechen,
das ich ihr als Kind gegeben hatte, ich brach es an dem Tag, als Aja zu mir
sagte, wenn du weinen willst, weine, niemand kann es dir verbieten, und Karl
uns in Jakobs Wagen vom Neckar über die sachten Hügel fuhr, die sich der Sommer
mit sattem Grün erobert hatte, zum Rand unserer kleinen Stadt, zur Brücke über
den Klatschmohn, wo wir Évis Haus und unsere Linden sehen konnten. Wir gingen
an der Mauer entlang zum Friedhof, Aja legte die Hände auf die warmen Steine,
Karl öffnete das gusseiserne Tor mit den Eichblättern und blieb stehen, als
wolle er Aja und mir einen Vorsprung lassen, und nach wenigen Schritten blieb
auch Aja stehen. Ich ging allein über den schmalen Kiesweg, und sie warteten,
während ich mein Versprechen brach und zum ersten Mal am Grab meines Vaters
weinte. Ich weinte, weil meine Mutter und ich allein geblieben waren, ich
weinte über den Namenszug meines Vaters auf diesem Stein, darüber, dass ich
keine eigenen Erinnerungen an ihn hatte, wenn ich auf die gerahmten Fotos in
unseren Regalen geschaut hatte. Ich weinte, weil ich den Klang seiner Stimme
nicht kannte, weil ich längst nicht mehr wusste, wie es gewesen war, seine
Wangen, seine Schultern anzufassen. Ich weinte, weil wir anfingen, unsere
eigenen Wahrheiten zu haben, uns nicht länger auf die Geschichten unserer
Mütter zu verlassen, unsere Welt nach eigenen Maßstäben zu erfinden, und weil
die bunten, lauten Jahre unserer Kindheit hinter uns lagen. Wir würden nicht
mehr warten, wir würden Luft holen und ins Leben springen wie in tiefes
Wasser, und so weit wir nur konnten, würden wir hinausschwimmen.
Als wir zurückgingen, strich Aja
mit den Fingern übers Tor, über jeden seiner gusseisernen Stäbe, und als sei
sie durchs stille Warten darauf gekommen, sagte sie etwas, das sie noch nie
gesagt hatte und über das Karl und ich lieber geschwiegen hatten. Ich bin ein
Krüppel, sagte sie, an einer Hand habe ich bloß drei Finger, und weil Karl und
ich glaubten, uns verhört zu haben, sagte sie es noch einmal, leiser und langsamer:
Ich bin ein Krüppel, an einer Hand habe ich bloß drei Finger. Wir lehnten an
der Mauer und schauten über die Felder zu Évis Haus, das von hier winzig
aussah, als sei es kleiner geworden, seit wir nicht mehr jeden Tag durch den
Garten sprangen, auf einem Bein über lose Steinplatten, durchs schiefhängende
Tor zu unseren Linden. Es sah aus, als habe Évi es schrumpfen lassen, weil sie
den Platz nicht mehr brauchte und es ihr ohne uns zu groß geworden war, jetzt,
da wir nur noch selten kamen, als sei das Dach gesunken und die Regenrinne
kürzer geworden, als seien die Holzwände zusammengerückt, als habe Évi ein
Seil
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